Ein Nachschlagewerk weiblicher Musikgeschichte? Gab’s bisher tatsächlich nicht. „These Girls“ liefert ein Anekdotenfeuerwerk aus den Hinterzimmer-Proberäumen und von den ganz großen Bühnen. Von SONJA EISMANN
Die besten Ideen lassen sich immer daran erkennen, dass sie folgende Fragenkette auslösen: „Gibt es das nicht schon längst? Und ist das Konzept nicht ein bisschen simpel? Was, das existiert noch gar nicht? Echt jetzt? Wieso hat das nie jemand gemacht?!“ Und dann, die so verblüffte wie erleichterte Erkenntnis: „Endlich!“ Genau so verhält es sich auch mit dem Buch – oder Sammelband, Lexikon, Lehrwerk in weiblicher Musikgeschichte – „These Girls. Ein Streifzug durch die feministische Musikgeschichte“, zusammengestellt und herausgegeben von der Ostberliner Journalistin Juliane Streich. 139 Musikerinnen von den 1940ern bis heute, von Edith Piaf bis Camp Cope, werden hier porträtiert von fast ebenso vielen und ebenso unterschiedlichen Autor* innen zwischen Journalismus und Uni, zwischen Teen-Age und Rentenalter, zwischen fanzineartigen Idiosynkrasien und akribischer Songanalyse. Zu jedem Künstlerinneneintrag gibt es ein Schwarz-Weiß-Bild – Plattencover, Porträt oder Live-Foto –, die Jahrzehnte werden durch schöne Illustrationen von Judit Vetter getrennt.
Den Instant-Einwänden wie „Aber, aber, aber … was ist denn mit dieser und jener, und wieso ist die allergrößte Musikerin nicht dabei?“ begegnet die Herausgeberin gleich zu Anfang ganz entspannt in ihrem Vorwort: „Letztens in der Kneipe. Wir trinken Bier, rauchen und reden darüber, was wir so machen. Ich erzähle von diesem Buch. Und direkt kommt die Frage: Ist Künstlerin X dabei? Nein. Und Künstlerin Y? Nein. Und Künstlerin Z? Nein. Der Freund zeigt sich enttäuscht. Janet Jackson, echt nicht?“
Das Buch, gibt Streich unumwunden zu, sei unvollständig – und das wäre es auch immer noch, wenn es doppelt oder gar dreimal so viele Seiten hätte als die ohnehin beeindruckenden 344. Die schlechte Nachricht ist in diesem Fall nämlich die gute: dass es schon immer und mittlerweile sowieso viel zu viele interessante Musikerinnen gibt, um sie in nur einem Buch abzuwickeln. Die Herausgeberin versteht ihr Buch daher als einen Anfang, aber auch als eine Art Signal. So wie viele der Autorinnen von den von ihnen porträtierten Frauen zum Musikmachen oder zum Fansein angeregt wurden, soll „These Girls“ selbst Vorbildcharakter entwickeln und Role Models sichtbar machen. In den Texten tun sich so immer wieder liebenswerte, gar rührende Bezüge auf, wenn z. B. die Bassistin Julie Miess ihre eigene Kleinstadtjugend selbstironisch mit dem Lebenslauf der gleichaltrigen Cristina Martinez parallelisiert, die in ihr den Wunsch entflammte, auch derart cool Musik zu machen. Oder wenn feministische Mutter und Tochter, Katja und Martha Röckel aus Leipzig, beide im selben Band schreiben, die eine über Kevin Blechdom, die andere über Sookee.
Die konzeptuelle Offenheit des Werkes, die zunächst irritierend wirken mag – in puncto Genre, Herkunft, Erfolg bzw. Underground versus Mainstreamigkeit gibt es keine spürbaren Einschränkungen –, stellt sich bald als sein großes Plus heraus. Denn auch Schreibweisen und Länge der Texte sind weit von einer Einheitlichkeit entfernt, was maßgeblich zum Lesevergnügen beiträgt. Während der Text über die Berliner Band Flying Lesbians die Kriterien eines informativen Lexikonbeitrags erfüllt und versierte Autorinnen wie Christina Mohr Wissenswertes über Idole wie Blondie oder The Go-Gos in schmissigen Popjournalismus verpacken, schmettern Originale wie Françoise Cactus (die natürlich auch porträtiert wurde) oder Elke Wittich originelle Bonmots über Ikonen wie Nico oder Marianne Faithfull hinaus, die auch als literarische Texte funktionieren würden. Und natürlich gibt es auch für die, die meinen, jetzt schon alles zu wissen, noch unglaublich viel Neues zu erfahren, sei es über unentdeckte biografische oder musikalische Details oder über ganz neue Personen. Einziger Wermutstropfen, um – wider besseren Wissens – doch noch in das „Aber, aber“-Horn zu tröten: Ein bisschen mehr Globalität, also auch Einträge zu Musiker*innen aus nicht-westlichen oder nicht-englischsprachigen Ländern, wäre spitze gewesen. Aber klar: Die kommen dann in der Fortsetzung. Hoffentlich bald!
Sonja Eismann ist Mitherausgeberin des „Missy Magazine“ und lebt als freie Autorin in Berlin.
Juliane Streich (Hg.): These Girls. Ein Streifzug durch die feministische Musikgeschichte
Ventil Verlag 2019, 344 Seiten, 20 Euro