Sozialdemokratische Parteien waren einst Motor des sozial- und frauenpolitischen Fortschritts – heute stehen sie quer durch Europa davor, in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. LEA SUSEMICHEL hat mit Politikwissenschaftlerin ALEXANDRA WEISS über neoliberale Irrwege und sexistische Strukturen gesprochen.
an.schläge: Es ist unzählige Male analysiert worden, dass die neoliberale Wende der sozialdemokratischen Parteien zu einem Glaubwürdigkeitsverlust geführt hat. Wieso ist es seither nicht gelungen, eine Kehrtwende zu vollziehen?
Alexandra Weiss: Die neoliberale Wende, der sogenannte dritte Weg der 1990er, bestand in einer Umorientierung: Die Sozialdemokratie verabschiedete sich von der Arbeiterklasse und orientierte sich zunehmend am Mittelstand. Da ist man falschen politikwissenschaftlichen Analysen der 1980er-Jahre auf den Leim gegangen, wonach sich die Arbeiterklasse auflöse, weil die soziale Frage im Sozialstaat stillgelegt worden sei. Doch auch der Mittelstand (oder wer sich dafür hält) wird immer ärmer. Die unteren Klassen sind aber nie verschwunden, sie sehen heute nur anders aus. Das hat viel mit Migration zu tun – aber ein „revolutionäres Subjekt“, das migrantischer und weiblicher ist, das ging nicht in die Köpfe der Funktionäre.
Der SPÖ gehen außerdem die intellektuellen Köpfe ab, es ist kaum noch politisches Personal da, das kritisches Denken vorantreiben könnte. Kritik von außen wird abgewehrt. Aber wenn eine sozialdemokratische Partei Kritik von links nur noch als Angriff lesen kann, dann ist sie verloren. Es wird ja oft behauptet, dass die große linke Erzählung fehlt, aber es gab und gibt so viele schlaue Köpfe, das Wissen ist da, man muss nur ernsthaft in Diskussion und Auseinandersetzung gehen und eine Programmatik ableiten. Genau das muss eine Sozialdemokratie leisten, wenn sie überleben will.
Warum trauen sich selbst nach der Finanzkrise weiterhin so wenige SozialdemokratInnen, den neoliberalen Kapitalismus fundamental anzugreifen? Die Diskussion in Deutschland um Kevin Kühnert hat ja gezeigt, dass das offenbar weiterhin ein Tabubruch ist.
Die politischen Eliten hatten nach der Krise einfach keine neuen Rezepte. Nicht nur bei der Sozialdemokratie, insgesamt gibt es zu ökonomischen Fragen eine Verengung des Denkens. Colin Crouch hat es „das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“ genannt. Es ist befremdlich, weil das neoliberale Modell offensichtlich gescheitert ist und trotzdem kein Politikwechsel angestrebt wird.
Einzelne Elemente keynesianischer Politik hat es nach der Finanzkrise gegeben, Kurzarbeit, Konjunkturpakete, die übrigens allesamt nur Männerarbeitsplätzen genutzt haben. Obwohl allen damals klar sein musste, welch riesiges Problem der Bereich Care-Arbeit ist, hat man darauf nicht reagiert. Das Denken, dass Sozialpolitik immer zu viel kostet, ist zu tief verankert. Zu dieser Religion der Budgetkonsolidierung gibt es in allen politischen Parteien keine wirkliche Alternative. Das jedoch ist der Job, den man machen muss als Linke/r, und das wäre auch der Job der Sozialdemokratie: soziale Gerechtigkeit, die heute fast utopisch erscheint, wieder denkmöglich machen.
In Portugal wurde die profiliert linke Politik der sozialdemokratischen Partei belohnt. Was läuft dort richtig?
Die machen genau das, was viele linke ÖkonomInnen schon lange fordern: Es wurde der Mindestlohn erhöht, Renten angepasst oder in bestimmten Bereichen die Arbeitszeit verkürzt, es wurden aber auch Steuern für Besserverdienende und für Vermögen erhöht. Ein Staat muss in die sozialen Dienste investieren, denn Investitionen in Pflege und Kinderbetreuung schaffen Arbeitsplätze und spielen Menschen frei – und sie rechnen sich ökonomisch sogar. Das wäre so essenziell, auch frauenpolitisch.
In Portugal kommt dazu, dass es weitere relevante linke Parteien gibt, mit denen man koalieren kann, das gibt es in Österreich nicht. Auch in Deutschland war das eine mögliche Variante, die aber nicht umgesetzt wurde – ein unglaublicher historischer Fehler.
Derzeit gibt es zwei konkurrierende Thesen: Die eine sagt, dass die SozialdemokratInnen einen schweren Fehler machen, wenn sie versuchen, rechtspopulistische Strategien zu übernehmen, denn dann wählen die Leute gleich das Original. Die andere Position warnt im Gegenteil davor, dass ein Linksruck die Partei für viele unwählbar machen würde. Auch bei den US-DemokratInnen gibt es diese Diskussion. Wie lässt sich also argumentieren, dass es einen starken Linksruck braucht?
Heute gilt man ja schon als linksradikal, wenn man das fordert, was in den 1970ern ganz normale sozialdemokratische Politik war. Das ist ganz klar ein Sieg der Rechten. Aber es ist der Job einer linken Partei, dass sie eine Utopie hat, diese vermitteln kann und linke Politik wieder attraktiv macht. Wir haben ganz offensichtlich ein Umverteilungsproblem, es gibt immer mehr Milliardäre, es wäre leicht, das zu argumentieren.
Stattdessen hat sich die Sozialdemokratie in dem historischen Moment, wo soziale Ungleichheit und Armut wieder zunahmen, in ganz Europa mit ihrem dritten Weg vom Klassenkampf verabschiedet.
Gegenwärtig wird wieder mehr Klassenkampf gefordert, allerdings wird das perfiderweise mit einer Kritik an „kulturellen Fragen“, an Identitätspolitik verknüpft – worunter auch Feminismus verstanden wird –, die vermeintlich zu viel Raum bekommen hätte.
Bei aller berechtigten Kritik daran, dass der akademische Feminismus die soziale Frage oft ausblendet, finde ich es erschreckend, dass die Debatte um Identitätspolitik so oft mit einem Feminismus-Bashing einhergeht. Und da trifft man sich ja auch sehr gut mit dem bürgerlichen Lager, das hat das Beispiel des Philosphen Robert Pfaller gezeigt. Der hat zwar keine Ahnung von Feminismus, versteigt sich aber zu der Aussage, dass man sich heute über sexuelle Belästigung beschweren kann, aber nicht über prekäre Arbeitsverhältnisse. Dass das für viele Frauen miteinander gekoppelt ist, kommt ihm nicht in den Sinn.
Auch in der Sozialdemokratie gibt es dieses Argument, man hätte sich zu sehr mit Frauenpolitik beschäftigt, was kaum der Realität entspricht. Bruno Kreisky ist in den 1970er-Jahren damit angetreten, dass die SPÖ die „Partei der Frauen“ sei. Dann kamen mit Johanna Dohnal 16 Jahre Frauenpolitik auf einem hohen Niveau, aber danach kam eben nicht mehr viel. Dass heute mehr Frauen die Kurz-ÖVP wählen, hat vor allem damit zu tun, dass die SPÖ ihnen kein Angebot mehr macht.
Man fragt sich nur, welches Angebot die ÖVP ihnen macht.
Das ist die große Frage, ja. Man konnte in den letzten Jahren in osteuropäischen Ländern beobachten, dass Frauen auch ganz rechte Parteien wählen, weil sie eine Politik machen, von der Frauen zum Teil unmittelbar profitieren: Anhebung des Mindestlohnes, Familienleistungen etc. Wenn emanzipatorische Frauen- und Sozialpolitik kein Thema ist, wird soziale Sicherheit in traditionellen Geschlechterverhältnissen gesucht.
Die SPÖ macht diese emanzipatorische Sozialpolitik nicht mehr. Auch jetzt bei der Debatte um die Neuaufstellung der Partei ist das kein Thema, die Frauenorganisationen sind schlicht nicht präsent.
Der Wahlerfolg der Grünen zeigt, dass es nicht sinnvoll ist, die ökologische gegen die soziale Frage auszuspielen. Was hat die Sozialdemokratie hier verpasst?
Klimaschutz ist sicher nicht die größte sozialdemokratische Kompetenz, aber er sollte keineswegs als Gegensatz zur sozialen Frage betrachtet werden. Gerade ein billiger und gut ausgebauter öffentlicher Verkehr wäre ein Beispiel, in dem sich soziale, ökologische und geschlechterpolitische Fragen treffen. Dass uns der Kapitalismus sowohl sozial als auch ökologisch an den Rand des Abgrunds bringt, muss zentraler Ansatzpunkt sozialdemokratischer Politik sein.
Andrea Nahles, die erste Frau, die den SPD-Vorsitz innehatte, musste zurücktreten, auch Pamela Rendi-Wagner stand von Anfang an scharf in der Kritik, selbst parteiintern. Sehen Sie Parallelen im Umgang mit sozialdemokratischen Politikerinnen?
Die Sozialdemokratie hat nach wie vor eine zutiefst sexistische Struktur, die nur oberflächlich aufgebrochen wurde. Es gibt kein Beispiel dafür, dass eine Frau in „guten Zeiten“ das Ruder übernehmen durfte. Es sind immer Krisenzeiten, in denen Männer ihre Karriere mit der Übernahme des Parteivorsitzes nicht gefährden wollen. Es geht aber auch darum, wie demokratisch und durchlässig Strukturen von Parteien und politischen Systemen für Frauen grundsätzlich sind.
Alexandra Weiss ist Politikwissenschaftlerin und lebt in Innsbruck. www.a-weiss.net