Männlichkeit und Macht: Was wir vom Ibizagate lernen können. Von JUDITH KOHLENBERGER
Was das Ibiza-Video so schockierend macht, sind die Selbstverständlichkeit und Nonchalance, mit der Gudenus und Strache agieren. Sie scheinen überzeugt gewesen zu sein, dass ihnen die in Aussicht gestellten illegalen Geschäfte und der daraus geschlagene persönliche Vorteil tatsächlich „zustehen“, sind sie doch, wie auch die ihnen zugetanen Spender*innen, „Idealisten“. Es verwundert deshalb nicht, dass in den ersten Reaktionen keinerlei Unrechtsbewusstsein gezeigt, sondern sofort zu Viktimisierung und Gegenangriffen übergegangen wurde. Diese grundlegende Einstellung, sich einfach zu nehmen, was einem zusteht, ist männlich konnotiert und spielt häufig bei sexueller Belästigung und Gewalt eine Rolle. Da passt es verblüff end gut ins Bild, dass sich sämtliche Erklärungsversuche seitens der FPÖ – von „prahlerisch wie ein Teenager“ bis hin zu „Machogehabe“ und „stockbetrunken“ – unwissentlich auf die hegemoniale, toxische Männlichkeit der handelnden Personen bezogen haben. Das strukturelle Fehlverhalten einer Partei, die, wie das Video nahelegt, nicht zum ersten Mal über illegale Auftragsvergabe und Parteifinanzierung vorbei am Rechnungshof nachdenkt, wird als Moment der persönlichen (männlichen) Schwäche bagatellisiert: ein Spitzbubenstreich, mit dem sich doch jeder richtige Mann identifi zieren kann, gerade in Anwesenheit einer „attraktiven Gastgeberin“, der man eben imponieren musste. Männer sind halt so, sollen sich die Bürger*innen halb kopfschüttelnd, halb schmunzelnd denken, und aus privaten Verfehlungen zweier spätpubertärer Ibiza-Urlauber keine weitreichenden politischen Verstrickungen, und schon gar keine Wahlentscheidungen ableiten.
Familienoberhaupt. Neben einem klassischen Männlichkeitsbild verdeutlicht Ibizagate aber auch, wie scheinbar traditionelle Werte wie jener der „Familie“ als politische Chiffre eingesetzt werden. In seiner Rücktrittserklärung stellte Strache ganz bewusst die Rolle des fehlbaren, aber reumütigen Ehemanns und Familienvaters in den Vordergrund, seine Entschuldigung galt allen voran derh intergangenen Ehefrau. Ein typischer Topos in den öff entlichen Beichten hoher Staatsmänner von Bill Clinton bis Anthony Weiner. Selbst Norbert Hofer begann sein Statement mit privaten Details aus seinem Familienleben und betonte, welch großes Opfer die zeitlich herausfordernde Rolle des Parteiobmannes für ihn als Familienvater nun bedeute. Dieses Opfer würde er aber gerne für eine andere Form der „Familie“, nämlich jene der Partei und, im weiteren Sinne, des Landes, bringen.
Man stelle sich vor, eine Politikerin würde mitten in einer solchen Regierungskrise von ihren Betreuungspflichten sprechen und die entgangenen Fahrstunden mit ihrer Tochter beklagen. Undenkbar, weil ihr das als Schwäche, Überforderung und mangelnde Energie ausgelegt würde.
Ein weiteres Motiv lässt sich im Video erkennen und kritisch analysieren: Das des weiblichen „Lockvogels“, der in der westlichen Kultur und Literatur weit verbreitet ist. Man denke nur an die legendäre Mata Hari, die als Tänzerin berühmt wurde und im Ersten Weltkrieg als Doppelagentin für den deutschen Geheimdienst tätig war. Hier verbinden sich die Vorstellung einer gefährlichen, weil offen ausgelebten und zur Schau gestellten weiblichen Sexualität mit dem Archetyp der verführerischen, aber hinterhältigen „Eva“ – psychoanalytisch gesprochen endet das in der klassischen Kastrationsangst für das männliche Ego.
In der Ibiza-Affäre werden diesem Stereotyp des gefährlichen Lockvogels zwei weitere typisierte Frauenfiguren gegenübergestellt: einerseits die Frau als schmückendes, aber stummes und passives Beiwerk, verkörpert durch die im Video zu sehende Tajana Gudenus. Andererseits Philippa Strache als liebende Ehefrau und Mutter, das Idealbild rechtspopulistischer Parteien wie der FPÖ. Dass beide Frauen in der Realität wesentlich aktivere Rollen einnehmen – Tajana Gudenus soll als Einzige darauf gepocht haben, die Ausweise der Gastgeber*innen zu kontrollieren, während Philippa Strache, im Gegensatz zu ihrem zurückgetretenen Mann, weiterhin als Tierschutzsprecherin und voraussichtlich bald im Nationalrat aktiv ist –, wird dabei gerne übersehen.
Starker Mann am Abstellgleis. Denn wonach sich der österreichische Durchschnittswähler tatsächlich sehnt, ist der sprichwörtliche „starke Mann“: Zahlreiche Umfragen belegen, dass der Wunsch nach einer starken Führungspersönlichkeit in den vergangenen Jahren gestiegen ist, vor allem in der Gruppe der jungen, männlichen Wähler mit niedrigem Bildungsniveau. Wohin dieser Druck auf Politiker, jederzeit als stark, viril und männlich wahrgenommen werden zu müssen, in einer konservativen, von klassischen Rollenbildern geprägten Partei wie der FPÖ führen kann, macht das veröffentlichte Videomaterial deutlich.
Doch zu Ende gedacht bietet Ibizagate mehrere wertvolle Gegenentwürfe für ein feministisch geprägtes Bild von Macht und Männlichkeit. Nicht nur wird durch das prahlerische Auftreten der handelnden Akteure das weit verbreitete Narrativ, Frauen wären „zu emotional“ für politische Ämter, konterkariert. Die jüngsten Ereignisse haben auch endlich eindrucksvoll gezeigt, dass toxische Männlichkeit mit ihren Seilschaften, Boys Clubs und jovialem Machogehabe eben nicht das notwendige Toolkit für eine steile politische Karriere bietet, sondern im Gegenteil diese auf einen Schlag beenden und, ganz nebenbei, das Land in eine veritable Regierungskrise stürzen kann.
Dienst an den anderen. Und genau hier zeigt sich das Potenzial eines Männlichkeitsbildes, das nicht von äußerer Stärke und Machtstreben bestimmt ist, sondern von Fürsorge um andere, um sich selbst und die soziale und ökologische Umwelt. Das alles sind wesentliche Aspekte einer „caring masculinity“ als Alternative zu traditionellen Männlichkeitskonzepten, die seit jeher die Politik beherrschen. Wenn es gelingt, Männlichkeit und ganz allgemein Leadership nicht nur durch den „starken Mann“ an der einsamen Spitze verkörpert zu sehen, sondern als „Stewardship“ zu begreifen, als tatsächlichen Dienst an und mit den anderen, ob Bürger*innen oder Mitarbeiter*innen, würde das auch dem und der Einzelnen viel Druck nehmen.
In der Politik liegt das Potenzial für ein neues, positives Männlichkeitsbild vor allem in einem konstruktiven Verständnis von Macht, nämlich als Möglichkeit zur Gestaltung und nicht als Dominanz oder Befehlsgewalt. In der jetzigen Situation würde das konkret heißen, dass alle politischen Akteur*innen, einschließlich der Oppositionsparteien und Sozialpartner*innen, in die Stabilisierung der österreichischen politischen Verhältnisse miteinbezogen werden. Hier würde feministisch agieren bedeuten, sich bewusst zu sein, dass nur gemeinsam gefundene Lösungen, die auf Balance und Ausgleich der Kräfte achten, auch tatsächlich nachhaltige sind. Ein feministisch geprägtes Männlichkeitsbild offenbart somit einen weiteren essenziellen gesellschaftlichen Mehrwert: Zurechenbarkeit, Verantwortlichkeit für die eigenen Handlungen, kritische Reflektion über eigene Verfehlungen und Schwächen, und damit Schutz vor Korruption, im Persönlichen wie im Politischen.
Judith Kohlenberger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpolitik der WU Wien, wo sie zu Migration, Geschlecht und Integration forscht.