In Österreich leiden mehr als 70.000 Personen an ME/CFS. Die Covid-19-Pandemie hat der Erkrankung Aufmerksamkeit verschafft – die Betroffenen aber werden weiterhin mit ihren Beschwerden und finanziellen Sorgen allein gelassen. Von Salme Taha Ali Mohamed
Mit einem geblümten Gehstock in einer Hand und dem festen Griff ihres Freundes an der anderen, steigt Magdalena* aus dem Zug. Eingehüllt in einen langen Mantel, ausgestattet mit einer speziellen Sonnenbrille, gewaltigen Kopfhörern und einer FFP2-Maske wirkt es so, als versuche sie sich vor der Welt zu verstecken. Die Sonne brennt auf den Bahnsteig am Westbahnhof, die Temperaturanzeige zeigt mehr als 30 Grad und trotzdem bleibt Magdalena vollkommen bedeckt. Nicht, weil ihr kalt ist, sondern um sich auf ihrem Weg zur Fachärztin vor der Sonne zu schützen. Magdalena zählt zu den mehr als 70.000 Menschen in Österreich, die am Myalgischen Enzephalomyelitis/Chronischen Fatigue Syndrom leiden.
Bei der Krankheit, die unter der Abkürzung ME/CFS bekannt ist, handelt es sich um eine chronische neuroimmunologische Multisystemerkrankung. Die Betroffenen – zu rund zwei Dritteln Frauen – leiden unter schwerer körperlicher und mentaler Dauererschöpfung, die nicht mit alltäglicher Müdigkeit verglichen werden kann. Ihre Leistungsfähigkeit ist drastisch eingeschränkt, wobei die Schwere der Symptome sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Selbst Aktivitäten wie Lesen oder Kochen werden für manche plötzlich zur Herausforderung. In schweren Fällen ist es unmöglich, sich weiterhin selbst zu versorgen.
Diese Verantwortung übernehmen dann Familie und Partner*innen, wie das auch bei Magdalena der Fall ist. Ihre Gesundheit hat sich seit der Infektion mit SARS-CoV-2 und dem darauffolgenden Ausbruch von Post-Covid und ME/CFS vor knapp drei Jahren derart verschlechtert, dass die 29-Jährige inzwischen bettlägerig geworden ist. „Ich war viermal geimpft, als ich mich ansteckte. Es war das erste und einzige Mal, dass ich Corona hatte“, erinnert sie sich. Nach zwei Wochen werde die Infektion überstanden sein, war sie damals noch überzeugt. „Aber die Symptome klangen nie wieder ab. Ich war noch Wochen danach ständig erschöpft und hatte Gliederschmerzen.“ Schlimmer noch: Je mehr Zeit verging, desto schlechter ging es ihr. Mittlerweile bewegt sich Magdalena hauptsächlich im Rollstuhl fort. Den Traum vom Doktoratsstudium musste sie aufgrund der Krankheit aufgeben.
Nicht ernst genommen. Die Ursachen für ME/CFS bleiben weitgehend ungeklärt. Bislang konnten virale Infektionen, wie Epstein-Barr oder SARS-CoV-2, als Auslöser für die chronische Krankheit identifiziert werden. Laut der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS und der Medizinischen Universität Wien können u. a. auch bakterielle Infekte oder Schädel- und Halswirbelsäulentraumata dazu beitragen. In Österreich wird die Zahl der Betroffenen nicht offiziell erfasst. Das Nationale Referenzzentrum für postvirale Infekte geht auf Grundlage von internationalen Studien davon aus, dass rund 0,8 Prozent der Bevölkerung an der Erkrankung leiden. Die ÖG ME/CFS berechnete, dass das eine Betroffenenzahl von 73.600 Personen für das Jahr 2025 in Österreich bedeutet. Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer, da ME/CFS oft falsch diagnostiziert wird. „Da so viele junge Frauen daran erkranken, werden die Betroffenen von den Ärztinnen häufig nicht ernst genommen. Man wird schnell in die Psycho-Ecke gesteckt“, weiß Barbara. Die Journalistin musste ihren Beruf aufgrund der Erkrankung graduell aufgeben. Heute betreibt sie einen Online-Blog über Post-Covid und ME/CFS, recherchiert und schreibt, wenn sie ein bis zwei Stunden die Kraft dafür hat. Aus ihren eigenen Erfahrungen und derer von Bekannten weiß sie, dass nicht nur mutwillige Ignoranz zur Unterversorgung der Betroffenen beiträgt – es gibt schlichtweg nicht genug Ärztinnen in Österreich, die sich auf die Krankheit spezialisiert haben. „Und die Spezialistinnen sind privat zu bezahlen und so überlaufen, dass man monatelang auf einen Termin wartet.“
Schleichender Rückzug. Dementsprechend lange kann die Diagnose in Anspruch nehmen: durchschnittlich 18 Monate, wie das Meinungsforschungsinstitut „Patientenstimme“ und die Partnerorganisation „NichtGenesen“ 2024 bei einer Umfrage mit 1.026 Personen aus dem deutschsprachigen Raum herausfand. Betroffene werden so nicht nur allein gelassen. Es kommt auch vor, dass sie falsche Behandlungsmethoden verordnet bekommen, die dauerhafte Schäden hinterlassen. „Nachdem ich auf der Reha war, die mir mein Arzt verordnet hat, ging es mir nur noch schlechter. Ich erlebte dort meinen ersten Crash“, erzählt Barbara. Mittlerweile leidet sie an konstanter körperlicher und geistiger Erschöpfung, Muskel- und Halsschmerzen sowie an „Post-Exertioneller-Malaise“ (PEM). PEM wird umgangssprachlich als „Crash“ oder Belastungs-Erholungsstörung bezeichnet und ist das Leitsymptom der Krankheit. Sie tritt auf, nachdem die Betroffenen eine Tätigkeit ausgeführt haben, die ihre Belastungsgrenzen überschreitet. Je nach Schwere der Erkrankung kann das ein Spaziergang, ein Arzttermin oder auch nur zu viel Lärm sein. „Meine Familie und Freundinnen sehen mich nur an meinen guten Tagen und denken dann, dass es mir eh nicht so schlecht geht. Aber sie sehen nicht, wie lange ich mich nach ihrem Besuch im Bett ausruhen muss und mir nicht einmal etwas zu essen machen kann“, berichtet Barbara. Das Achten auf die eigenen Grenzen ist das A und O zur Linderung der Symptome. Gleichzeitig bedeutet es, dass viele Erkrankte aus der Öffentlichkeit verschwinden – nicht nur, weil sie ihre Berufe nicht mehr wie zuvor ausüben können, sondern auch, weil sie in ihrem Privatleben zurückstecken müssen. Zunehmende Vereinsamung ist die Konsequenz.
Mit Einsamkeit hat auch die 27-jährige Janis* seit rund einem Jahr zu kämpfen. Sie kannte die Symptome von ME/CFS bereits von ihrem Ex-Partner, als sie erstmals bei ihr selbst ausbrachen. „Ich habe ihn gegen Ende unserer Beziehung noch viel begleitet. Deswegen konnte ich es relativ schnell zuordnen“, sagt sie.
Durch ihn kam Janis auch an Fachärzt*innen und eine Diagnose. „Ich hatte einfach Glück“, resümiert die Grafikerin. „Ansonsten hätte ich wahrscheinlich erst nach Monaten realisiert, was mit mir passiert.“ Das ermöglichte Janis auch, ihren Alltag frühzeitig an ihre neuen Grenzen anzupassen und eine weitere Verschlechterung zu vermeiden. „Dadurch, dass ich nur leicht betroffen bin, kann ich mich gut selbst versorgen“, erzählt sie. Ihre sozialen Kontakte aber haben sich mit der Zeit verringert, weil sie immer wieder Einladungen ausschlagen musste. Janis lebt alleine in der Wohnung, in der sie sich die meiste Zeit aufhalten muss. „Mittlerweile kann ich wieder mehr Sachen unternehmen, wie mich mit Freundinnen in einem Café zu treffen oder spazieren zu gehen. Aber es ist schwer, sich wieder ins soziale Leben zurückzukämpfen. Dieses Jahr der Vereinsamung hat viel mit mir gemacht“, schildert sie. Sie habe etwa das Gefühl verloren, wie man mit Menschen umgeht und verlernt, körperliche Zuneigung zu zeigen – auch, wenn es das ist, was sie manchmal besonders braucht, wenn sie keine Energie zum Sprechen hat.
Zu viele Versorgungslücken. Für die drei Frauen ist klar: Es muss noch viel getan werden, um über ME/CFS und deren Auswirkungen auf die Betroffenen aufzuklären. Besonders im österreichischen Gesundheitswesen besteht dringender Aufholbedarf. Noch 2024 hatte Gesundheitsminister Johannes Rauch einen Nationalen Aktionsplan zu postakuten Infektionssyndromen angekündigt. Dieser beinhalte wichtige Maßnahmen zur Schließung der Versorgungslücken. Schließlich hieß es aber, die Implementierung müsse auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Der Grund: Es seien noch weitere Überarbeitungen notwendig. „Wir brauchen jetzt schon Unterstützung und nicht erst in ein paar Jahren“, sagt Janis.
„Zumindest hat es das neue Referenzzentrum für postvirale Syndrome erreicht, dass Medikamente für andere Krankheiten, die auch bei ME/CFS helfen, von Ärzt*innen verschrieben werden können“, sagt Barbara. „So wurde wenigstens in der Praxis der Zugang zu Behandlungen erleichtert.“ Das Zentrum bietet zusätzlich Fortbildungen für Ärzt*innen zu ME/CFS an. Zugleich gibt es bislang keine öffentlichen Anlaufstellen, an die sich die Erkrankten wenden können. Die Erste soll voraussichtlich noch diesen Herbst in Salzburg eröffnet werden.
Salme Taha Ali Mohamed schrieb u. a. für das biber-Magazin, social attitude, die BezirksZeitung und MO – Magazin für Menschenrechte.