Alle zwei Wochen tötet in Österreich ein Mann eine Frau, in Deutschland geschieht dies jeden zweiten bis dritten Tag. Rechtsanwältin Christina Clemm kämpft gegen Femizide und vertritt Betroffene von geschlechtsspezifischer und rassistischer Gewalt. Ein Interview von Gabi Horak
an.schläge: In Ihrem Buch „AktenEinsicht“ zeigen Sie anhand konkreter Gerichtsfälle, dass sich geschlechtsspezifische und rassistische Gewalt durch alle Gesellschaftsschichten zieht. Die Gewalt ist systemimmanent. Das gilt auch für das vermeintlich unabhängige Gericht. Was müsste passieren, damit sich das endlich ändert?
Christina Clemm: Ich befürchte, es gibt nicht etwas, das sofort und am meisten helfen würde. Letztlich ist die beschriebene Gewalt wichtiger Bestandteil zur Erhaltung eines ökonomisch zutiefst ungleichen, rassistisch und patriarchal geprägten Gesellschaftssystems. Ermittlungs- und Gerichtsverfahren folgen dabei der gesamtgesellschaftlichen Situation. Momentan lässt sich das sehr gut beobachten. Während sogenannte Querdenker*innen mit Rechtsextremen gemeinsam zu Zigtausenden in deutschen Innenstädten ohne Masken gegen alle Auflagen verstoßend und viele Menschenleben gefährdend ungestört demonstrieren, werden Anitfaschist*innen und Feminist*innen, die sich menschenverachtenden Bewegungen in den Weg stellen, kriminalisiert. Statt in der Krise der Pandemie sorgsam miteinander umzugehen, nehmen Armut, Ungleichheit sowie die sogenannte Partnerschaftsgewalt und Gewalt gegen Kinder zu, ebenso wie rechtsextreme Übergriffe.
Was müsste sofort, kurzfristig geschehen?
Zunächst sollten alle sehr viel mehr und anders über geschlechtsspezifische und rassistisch motivierte Gewalt sprechen. Statt den Opfern nicht zu glauben oder ihnen selbst die Schuld zuzuweisen, brauchen wir echte Solidarität mit denen, die Gewalt überlebt haben. Und es braucht an vielen Stellen konkret bessere Ausstattung und Unterstützung.
Am 1. März gab es eine Sitzung des Familienausschusses in Berlin zum Thema Femizide in Deutschland. „Die Linke“ hatte einen Antrag eingebracht auf Einrichtung einer Beobachtungsstelle, die jede Tötung erfasst, untersucht und veröffentlicht. Außerdem wurde gefordert, das Hilfesystem auszubauen und verpflichtende Fortbildungen bei Polizei und Justiz einzuführen. Sie haben diese Forderungen als Expertin im Ausschuss dezidiert unterstützt. Was könnte eine solche Beobachtungsstelle bringen?
Wir wissen immer noch viel zu wenig über Femizide. Was sind die Hochrisikofaktoren? Wie oft haben die Opfer vorher staatlichen oder anderen Schutz gesucht? Welche Rolle spielt Stalking bei den Femiziden? Wie oft werden Femizide in Zusammenhang mit der Ausübung von Umgangsrechten bei hochstrittigen und gewalttätigen Vorgeschehnissen begangen? Welche Femizide werden aus geschlossenen rechten und misogynen Weltbildern heraus verübt, welche Strukturen begünstigen Gewalt gegen Frauen?
Ich erhoffe mir durch eine solche Beobachtungsstelle wichtige Erkenntnisse für die Prävention. Neben der Einrichtung einer unabhängigen Beobachtungsstelle wären Öffentlichkeitskampagnen, Schulungen, Präventionsarbeit in der Kinder- und Jugendarbeit, Anti-Aggressions-Kurse, also Täterarbeit, und eine bessere Ausstattung von Frauenberatungsstellen und Schutzeinrichtungen dringend erforderlich. Dies ist ein kleiner Bestandteil im Kampf gegen Femizide. Wir brauchen aber auch hier endlich eine entschlossene und laute Bewegung gegen geschlechtsspezifische Gewalt, wie etwa in Brasilien oder Chile.
Der Begriff „Femizid“ wird kontrovers diskutiert. Manche kritisierten ihn als zu eng, etwa weil er nicht-tödliche Formen von Gewalt ausschließe. Wie stehen Sie zu dem Begriff?
Ich finde den Begriff der Femizide hilfreich, um die Gefährlichkeit, also die Tödlichkeit von geschlechtsspezifischer Gewalt zu thematisieren. Letztlich aber geht es nicht nur um die tödlichen Angriffe, sondern um das strukturelle Problem. Mir ist dabei auch wichtig, dass nicht nur die Fälle im sozialen Nahraum beachtet und analysiert werden, sondern all die Gewalt, die in politischen Auseinandersetzungen, aus Transfeindlichkeit, gegen Feministinnen, gegen Sexarbeitende etc. ausgeübt wird und ebenfalls äußerst gefährlich ist. Dabei müssen besonders auch die mehrfach diskriminierten Gruppen in den Fokus kommen. Im sozialen Nahraum müssen selbstverständlich auch die assoziierten Delikte, wie etwa die Tötungen von Kindern, um sich an der Ex-Partnerin zu rächen, oder die Tötungsdelikte an Unterstützungspersonen mit betrachtet werden.
Braucht es neue Strafbestände?
Ich befürworte keinen eigenen Femizid-Straftatbestand. Dann bräuchten wir auch eigene Tatbestände in vielen anderen Bereichen, etwa bei rassistisch, antisemitisch, ableistisch oder LGBTIQ-feindlich motivierten Tötungsdelikten. Nein, ich denke, die Rechtsprechung muss sich grundlegend ändern. Es darf kein Verständnis für misogyne Praktiken geben, keine Vergewaltigungsmythen und Rassismen. Dies wird wohl nur durch Fortbildung und Sensibilisierung von Richter*innen funktionieren. Aber auch schon in der juristischen Ausbildung sollten verpflichtend Kurse der Genderwissenschaften belegt werden müssen, wie auch Antirassismus-Kurse.
Die Türkei ist kürzlich aus der Istanbul-Konvention (IK) ausgestiegen. Hat die Konvention Auswirkungen auf die deutsche Justiz bzw. Rechtsprechung? Also schützt sie (potenzielle) Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt?
Leider spielt die Istanbul-Konvention in der Rechtsprechung noch gar keine Rolle. Ich habe neulich einmal bei einem der wichtigsten Rechtsprechungsportalen nachgesehen und letztlich nur eine einzige gerichtliche Entscheidung in einem strafrechtlichen Zusammenhang gefunden, die überhaupt auf die IK Bezug genommen hat. Aber sie könnte ein sehr gutes Mittel sein, um Betroffene zu schützen. Es ist noch ein langer Weg.
Auf Twitter haben Sie am 1. März geschrieben: „Ich habe heute zum ersten Mal in einem Gericht so klare und richtige Worte einer Vorsitzenden Richterin gehört: ‚Aus seiner Tat spricht tiefe Frauenverachtung.‘“ Passiert es wirklich so selten, dass diese Dimension von Gewalt vor Gericht erkannt und anerkannt wird? Oder anders gefragt: Wie patriarchal-verblendet ist die Justiz in Deutschland?
Diese Urteilsverkündung war für mich tatsächlich nachhaltig beeindruckend. Ich bin überzeugt davon, dass diese Worte für die Betroffenen sehr viel bedeuten. Manchmal gibt es solche Verfahren und solche Vorsitzenden, aber sie sind leider selten. Auch wenn sich Richter*innen scheinbar neutral verhalten, urteilen sie doch ihrer geschlechterstereotyp geprägten Sicht auf die Welt entsprechend. Es gibt immer noch Mythen: die der stets lügenden Frau, die sich einen Vorteil aus einer Strafanzeige wegen Vergewaltigung verschaffen würde; die sich rasch des unliebsamen Ehemanns durch die Anzeige wegen sexuellen Missbrauchs entledigen wolle; die selbst schuld ist und den Mann provoziert hat, weshalb ihm die Hand ausgerutscht ist. Oder das Verständnis für den Ehemann, der seine Frau aus tiefer Verzweiflung heraus getötet hat, weil sie ihn verlassen und damit seinen Lebensplan zerstört hat.
Sie sind auf Twitter sehr aktiv in Ihrem Kampf gegen Gewalt, Rassismus und die patriarchalen Strukturen dahinter. Wie gehen Sie selbst mit Angriffen um? Haben Sie auch schon einmal etwas zur Anzeige gebracht?
Es ist ja klar, dass ich alle Bedrohungen oder Beleidigungen sofort anzeige. Aber das kommt nicht häufig vor. Ich vertrete aber viele andere Betroffene, die aufgrund der öffentlichen Thematisierung von Feminismus und Antifaschismus/Antirassismus massive Angriffe im Netz aushalten müssen, und bin sehr unzufrieden mit der juristischen Aufarbeitung digitaler Gewalt. Insgesamt sind Ausmaß und Auswirkungen dieses Problems, sowohl bei Hate Speech als auch im sozialen Nahraum wie etwa bei Revenge Porn oder beim Cybermobbing, noch völlig unterbelichtet.
Christina Clemm ist Rechtsanwältin für Opfer sexualisierter und rassistischer Gewalt sowie Fachanwältin für Strafrecht und Familienrecht in Berlin.
http://anwaeltinnen-kreuzberg.de