#SkinnyTok bringt den Magerwahn zurück. Von ELISABETH LECHNER
Auf „SkinnyTok“ erzählen „Skinny Girls“ vom „Skinny Mindset“. Elisabeth Lechner ist entsetzt von der Rückkehr des Magerwahns, gibt aber die Hoffnung nicht auf.
Wer sich dieser Tage auf sozialen Medien bewegt, sieht sich mit einer Form von Dickenfeindlichkeit konfrontiert, die selbst die Resolutesten unter uns mit vor Entsetzen offenstehenden Mündern zurücklässt. Tief einatmen, wir tauchen kurz gemeinsam ab in die Untiefen von #SkinnyTok, also dem Diät-Content junger, fast ausschließlich weißer Influencerinnen auf TikTok, die die berüchtigten „nothing tastes as good as skinny feels“-Körperideale der 2000er-Jahre – ältere Leserinnen werden sich mit Schaudern daran zurückerinnern – im Vergleich blass erscheinen lassen.
Cleane Girls. Die archetypische Protagonistin von #SkinnyTok ist jung, able-bodied, weiß, mädchenhaft und superfeminin im Auftreten, immer perfekt geschminkt und gertenschlank. Wie sie dahin kam, zeigt sie nicht, denn ein #CleanGirl schwitzt nur abseits von Kameras. Ihre Vergangenheit als „ex-fatty“ oder „retired big girl“ taucht nur in einzelnen, unscharfen Bildern eines nicht näher bestimmten „Vorher“ auf, das zur reichweitenstarken Währung in hyper-individualistischen Transformationsnarrativen auf sozialen Medien wird. Wenn das ihr „Nachher“ ist, wenn sie es geschafft hat, kann ich es doch auch – oder? Disziplin und Kontrolle braucht es in allen Lebensbereichen, so das „brutal ehrliche“ Skinny Girl. In „#WhatIEatInADay“-Videos erfahren wir, was das „Skinny Mindset“ für den Bereich der Nahrungsaufnahme bedeutet: Gegessen wird wenig (das Stichwort lautet „Portion Control“) und immer alleine, aber mit Fokus auf Proteine. Wasser und Zitronen-Brausepulver helfen gegen den Hunger und wer gerade Streifen zur Zahnaufhellung trägt, kann auch nicht essen. Pro-Tipp! Wie praktisch.
„Food Freedom“. Ermächtigende Konzepte wie „Food Freedom“, Selbstliebe und intuitives Essen werden in den Videos auf perfide Arten vereinnahmt – wer sich und seinen Körper liebt, fastet und optimiert. In den Hashtags geht es dann aber nicht mehr um #SelfLove, sondern darum, wie man mit einem #CalorieDeficit zum #SkinnySummer kommt. Mit der richtigen Metrik (Minimum 10.000 Schritte am Tag), dem richtigen Content (Fitfluencern folgen! Food Content entfolgen!) und der richtigen Mentalität („Manifestiere! Denke wie ein #SkinnyGirl!“) kannst auch du es schaffen! Manche der Accounts begleiten dich durch motivierendes „Empowerment“ beim Abnehmen, andere schimpfen dich via „Tough Love Fitness“ mit krassen Schuld- und Beleidigungslogiken dünn. 2025 zeichnet sich in Sachen Körpern ein widersprüchliches Bild: Einerseits hat die Body-Positivity-Bewegung der 2010er-Jahre erreicht, dass eine bestimmte Form von kommerziell verträglicher Diversität zur Norm in Werbung und Popkultur geworden ist. Andererseits sehen wir uns konfrontiert mit einem Backlash in Sachen Diversität und einer immer stärker werdenden Welle von Ess- und Körperwahrnehmungsstörungen, gerade unter jungen Frauen, dem Hype um sogenannte „Abnehmspritzen“ sowie digitale Face-Filter und porenfreie KI-Avatare, die verunsichern. Ja, auf der Repräsentationsebene haben wir Erfolge gefeiert, doch ganz offensichtlich übersetzt sich mehr Sichtbarkeit für unterschiedliche Körper – fast alle absolut normschön und in maximal einem Merkmal abweichend – nicht automatisch in strukturellen Wandel, also mehr Selbstbewusstsein und Körperakzeptanz bei jungen Menschen.
skinny privilege. Lookistische Diskriminierung dominiert weiterhin unseren Alltag. Der Zugriff auf Körper ist in Zeiten von digitalem Kapitalismus, einer krisengebeutelten Gegenwart und dem von den USA bis nach Europa spürbaren Rechtsruck sogar noch drastischer geworden – nicht-weiße, nicht-dünne (und damit vermeintlich nicht-leistungsfähige), queere Körper werden zur Zielscheibe für Angriffe, die reproduktionswillige, häusliche, schöne, weiße cis Frau ist das Ideal. Das haben auch die Skinny Girls auf TikTok erkannt: „Imagine how far pretty AND skinny privilege will get you!“, heißt es zur Motivation in ihren Videos. Schade, dass sie damit die repressiven Strukturen zwar hellsichtig analysieren, aber keine widerständigen Schlüsse daraus ziehen. Stattdessen werden mit immer neu erfundenen Makeln – ganz aktuell „Cortisol-Face“ und „Toebesity“ (googelt lieber nicht) – Unsicherheiten verschärft, und über Beschämungslogiken immer neue Produkte verkauft. Niemand genügt einfach so, der Körper ist immer Arbeit und zu bearbeitendes Projekt. Lookismus wird auf einer individuellen Ebene nicht aufzulösen sein und Schönheitsarbeit kann sich für Einzelne daher immer nur widersprüchlich anfühlen: Einerseits kann es ein Ausdruck von Selbstfürsorge sein und Freude machen, zum Workout zu gehen oder sich zu schminken. Andererseits passiert diese Arbeit am Selbst nicht im luftleeren Raum: Wer in den Körper investiert, macht das nie unabhängig von gesellschaftlichen Schönheitsidealen und hat dadurch Vorteile in allen Lebensbereichen. Doch selbst für die Normschönsten unter uns ist das ein Glücksspiel mit hohem Einsatz und Ablaufdatum – Altern und Krankheit kommt schließlich niemand aus.
Belegbare Nachteile. Gerade für Frauen gilt: Es gibt im Patriarchat keine richtige Art, Frau zu sein. Über immer neue, niemals zu erreichende Ansprüche an unser Äußeres werden wir unter Kontrolle gehalten, mit unseren Gefühlen von Unzulänglichkeit die Profite von Unternehmen der Schönheitsindustrie in die Höhe getrieben. Gewinnerinnen gibt es keine: Wer versucht, sich mit Unmengen an Zeit, Schmerzen, Disziplin, Versagen und Geld diesen irrwitzigen Idealen zu nähern, leidet. Für Genuss, für Miteinander, für Ausgelassenheit ist in diesem strengen Konzept normativer, weiblicher Körperlichkeit kein Platz. Wer sich widersetzt und auf die Standards pfeift, muss mit empirisch belegbaren Nachteilen im Dating, im Job, in der Gesundheitsversorgung und am Wohnungsmarkt rechnen. Und wer kann sich Widerstand überhaupt leisten? Während eine junge, dünne, weiße Frau mit haarigen Achseln vielleicht noch als edgy und rebellisch durchgeht, sind Schwarze Frauen in rassistischen Gesellschaften mit schlimmsten Beleidigungen und Tiervergleichen konfrontiert, wenn ihr Körperhaar-Management als „ungepflegt“ gelesen wird.
Auch wenn uns nun noch mit – teuren – „Abnehmspritzen“ wie Ozempic oder Mounjaro suggeriert wird, jede*r könnte auf Dauer schlank sein, bleibt Gesundheit politisch und nur verstehbar durch das Mitdenken sozioökonomischer Rahmenbedingungen. Entgegen der einsamen Realität, die Skinny Girls auf TikTok abbilden, sind wir alle eingebunden in – zutiefst durch Ungleichheit gekennzeichnete – gesellschaftliche Verhältnisse, aus denen sich unterschiedliche Möglichkeiten ergeben, Einfluss auf den eigenen Körper, die Gesundheit und Schönheit zu nehmen: Wer kann sich frisches, nährstoffreiches Essen leisten? Wer hat Zeit für Sport?
Trotz neuer Kulturtechniken zum Abnehmen ist Gesundheit komplex und in kapitalistischen Gesellschaften erschütternd ungleich verteilt.
„Weight Release“. Nach zehn Jahren Forschung zum Thema komme ich zu dem Schluss: Zu Selbstliebe gibt es keinen Shortcut. Wir können Body-Freedom nur erreichen, wenn wir uns dem Schmerz stellen, der all dem Körperoptimierungs-Content auf sozialen Medien zugrunde liegt. Je mehr Kontrolle auf uns ausgeübt, je mehr digitale Medien autokratischen und faschistoiden Überwachungs- und Datenextraktionslogiken folgen, je mehr Rückzug in die Optimierung gefordert wird, desto mehr müssen wir die Vereinzelungslogik von Scham durchbrechen. Desto mehr brauchen wir verstärkt im Analogen Räume für geteilte Verletzlichkeit, das Erzählen und Überwinden unserer Scham-Geschichten und die solidarische Organisierung gegen repressiven Magerwahn.
Für mich gilt auch jetzt, wo Lizzo sich mit „Weight Release“ (etwa Gewichtsbefreiung) statt #BodyPositivity brüstet, was immer schon galt: #RiotDon’tDiet! Es sind düstere Zeiten, aber vielleicht können wir aus einem unverstellten, nüchternen Blick auf die Verhältnisse genug Mut und Wut sammeln, um uns zusammenzutun, den radikalen Spirit der ursprünglichen Fat-Liberation-Bewegung der 1960er und -70er zu bündeln und die Epidemie der Körperunsicherheit an der Wurzel zu packen. Wir können nicht noch eine Generation an den Magerwahn verlieren! Es reicht!
Elisabeth Lechner ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Ihre Dissertation zur Body-Positivity-Bewegung erschien 2021 auf Deutsch als „Riot Don’t Diet! Aufstand der widerspenstigen Körper“ bei Kremayr & Scheriau.