Der Fall Assange hat die Aufmerksamkeit auf das schwedische Sexualstrafrecht gelenkt. ANDREA HEINZ hat es sich genauer angesehen und festgestellt: Wichtiger als die Gesetzeslage ist allemal der gesellschaftliche Umgang mit sexueller Gewalt.
Eigentlich erregte der Wikileaks-Gründer Julian Assange ja beträchtliches mediales Interesse, weil er ein paar ziemlich geheime politische Interna ausgeplaudert hat. Seit er jedoch in Schweden, ausgerechnet jenem Land also, das immer noch als Paradies des sozial verträglichen Liberalismus gilt, der Vergewaltigung angeklagt wurde, scheint sich alles nur noch um ein unnötig strenges Gesetz in einem autoritären Staat zu drehen. Vergewaltigungwerde hier genauso instrumentalisiert wie die Freiheit der Frau bei der Afghanistan-Invasion, zitiert Michael Moore Naomi Klein in seinem offenen Brief an Schweden. Und fordert die Regierung auf, sich doch lieber um die frei herumlaufenden Vergewaltiger im eigenen Land zu kümmern.(1)
FACTBOX: „Die zweite Vergewaltigung“
Wie es tatsächlich um den Umgang der schwedischen Gesellschaft mit Vergewaltigung bestellt ist, zeigt so drastisch wie schockierend der Fernsehfilm „Den andra våldtäkten / The second Rape“, der 2010 zum ersten Mal im schwedischen Fernsehen gezeigt wurde. Der Film der Autoren Hasse Johansson und Nicke Nordmark erzählt von zwei 14- und 17-jährigen Vergewaltigungsopfern in der nordschwedischen Kleinstadt Bjasta. Die Geschichte beginnt mit Gerüchten in der Schule und endet in einem Internet-Mob, der sich gegen die Mädchen stellt. Trotz existierender DNA-Beweise und einem Geständnis des Täters wird den Mädchen die Schuld an den Vergewaltigungen gegeben. Der Film erregte in der schwedischen Öffentlichkeit, bis hinauf zum Premierminister, großes Aufsehen und führte zu zahlreichen Artikeln und Nachforschungen über den Fall. Er wurde beim Prix Europe 2010 ausgezeichnet, die Begründung lautete: „Der Film erzählt, wie Klatsch und Gerüchte als Tatsachen betrachtet werden und die Opfer in der Folge zu Verfolgten werden. Es wird auch gezeigt, wie das Internet dazu beiträgt, bei der Hetzkampagne Öl ins Feuer zu gießen, und wie die Kirche und die Schule der beiden Mädchen deren Albtraum nur noch weiter verschlimmern.“ Auch einen angesehenen schwedischen Journalismuspreis erhielten die Macher 2010. Als Aufdecker des Jahres wurden sie dafür ausgezeichnet, „zu enthüllen, wie ein Opfer verfolgt wird, (…) zu zeigen, wie es Erwachsene versäumen, zu reagieren“.
Zu den Fakten im Fall Assange: Ihm werden sexuelle Nötigung in mehreren Fällen sowie minder schwere Vergewaltigung in einem Fall vorgeworfen. Er soll mit zwei Frauen gegen deren Willen ohne Kondom geschlafen haben, ebenfalls ohne Kondom soll er mit einer Frau Sex begonnen haben, während diese noch schlief.(2) Im schwedischen Strafgesetzbuch wird Vergewaltigung folgendermaßen definiert: „Wer einen Menschen durch Misshandlung oder sonstwie mit Gewalt oder durch Androhung von Verbrechen zum Geschlechtsverkehr oder dazu zwingt, eine andere sexuelle [körperliche] Handlung vorzunehmen oder an sich zu dulden, die im Hinblick auf die Art der Erniedrigung und die Umstände mit Geschlechtsverkehr zu vergleichen ist (…).“(3)
Spätes Nein? Besonderen Aufruhr verursachte eine Nachbesserung des schwedischen Sexualstrafrechtes, an der im Jahr 2005 u.a. die inzwischen emeritierte Strafrechtsprofessorin der Universität Stockholm, Madeleine Leijonhufvud, beteiligt war. Wer mit einer Person Geschlechtsverkehr oder eine dementsprechende Handlung vollzieht, obwohl sich die Person „durch Bewusstlosigkeit, Schlaf, Trunkenheit oder andere Drogeneinflüsse, Krankheit, Verletzung oder seelische Störung oder durch etwas anderes im Hinblick auf die Umstände in einem hilflosen Zustand befindet“, kann nun ebenfalls wegen Vergewaltigung belangt werden.(4) Insbesondere auf diesen Absatz stützt sich der Glaube, in Schweden könnten es sich die Frauen auch nach dem Sex noch anders überlegen, sollten sie sich etwa plötzlich unwohl damit fühlen. Von einem „Recht auf ein spätes Nein“ ist die Rede.
Ähnliche Rechtslage. Sieht man sich die Gesetzeslage genauer an, wird deutlich: So sehr unterscheidet sich das schwedische gar nicht vom österreichischen oder deutschen Gesetz. Der Begriff der sexuellen Nötigung – im Schwedischen „olaga tvång“ – könnte zu Deutsch mit „widerrechtlichem Zwang“ übersetzt werden. Eine solche Nötigung könnte die Fortsetzung zunächst einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs etwa nach dem Reißen des Kondoms darstellen.(5) Im deutschen Strafgesetzbuch gilt als sexuelle Nötigung und Vergewaltigung, wenn „eine andere Person 1. mit Gewalt, 2. durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben oder 3. unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist“ zu sexuellen Handlungen genötigt wird. Was genau eine solche schutzlose Lage darstellt, ist wiederum Auslegungssache und wohl eher Frageder Rechtspraxis als der Rechtslage an sich. Als besonders schwerer Fall gilt es u.a., wenn „der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt oder an sich von ihm vornehmen lässt, die dieses besonders erniedrigen, insbesondere, wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind (Vergewaltigung)“.(6) Auch hier ist der entgegenstehende Wille des Opfers das entscheidende Kriterium.
In Österreich gilt als Vergewaltigung, wenn „eine Person mit Gewalt, durch Entziehung der persönlichen Freiheit oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben“ zum Beischlaf oder Vergleichbarem genötigt wird.(7) Unter „Geschlechtliche Nötigung“ findet sich hier folgende Definition: „Wer (…) eine Person mit Gewalt oder durch gefährliche Drohung zur Vornahme oder Duldung einer geschlechtlichen Handlung nötigt (…).“(8)
Viele Anzeigen, wenige Verurteilungen. Schwedens Gesetzeslage ist also kaum strenger als die in Deutschland oder Österreich. Tatsache ist jedoch auch, dass in Schweden eklatant mehr Vergewaltigungen angezeigt werden als hierzulande. 2009 waren es etwa 5.446 Anzeigen, die größte Steigerung war seit der Gesetzesänderung im Jahr 2005 feststellbar.(9) Auf 100.000 EinwohnerInnen kommen im Schnitt 46,5 Anzeigen, in Österreich werden statistisch gesehen 8,5 Vergewaltigungen gemeldet.(10) Manche erklären die Diskrepanz mit der lockeren schwedischen Sexualmoral, manche mit zu Unrecht erhobenen Vorwürfen, die wiederum erst die Gesetzeslage möglich mache. Weder noch, sagt Jonas Trolle, Kriminalinspektor in Stockholm, und erklärt die vermehrten Anzeigen mit einer besonderen „Sensibilität für die Rechte der Frau“ und einem anderen „Selbstbewusstsein“ der schwedischen Frauen.
Fußnoten
(1) www.michaelmoore.com/words/mike-friends-blog/dear-government-of-sweden
(2) Safer Sex in Schweden, ZEIT Online, 2.1.2011
(3) Brottsbalken/Schwedisches Strafgesetzbuch Kapitel 6, §1 (Übersetzung: www.belleslettres.eu/artikel/assange-vergewaltigung-schweden.php)
(4) Brottsbalken 6, §1, Abs. 2
(5) Was gilt in Schweden als Nötigung? FAZ.NET
(6) StGB §177,1, 177,2
(7) StGB §201,1
(8) StGB §202,1
(9) Das Recht auf ein spätes Nein, sueddeutsche.de, 9.12.2010
(10) http://diestandard.at/1242317004592/Studie-Vergewaltigung-bleibt-in-Oesterreich-meist-straffrei
(11) http://prataomdet.se
Was auch immer zu den zahlreichen Anzeigen führt, die wenigsten enden mit einer Verurteilung. In weniger als 20 Prozent der Fälle kommt es überhaupt zu einer Anklage, nur etwas mehr als zehn Prozent führen letztlich zu einem Schuldspruch, stellt Ulrika Andersson, Rechtsprofessorin an der Universität von Lund, fest. Das Problem dabei sei die Beweislast. Die Gerichte verlangen unterstützende Beweise, die Zeugenschaft des Opfers alleine reicht nicht aus. Schließlich steht in den meisten Fällen Aussage gegen Aussage. Keine Rede also von Frauen, die es sich mal eben anders überlegt haben.
Verschärfung oder Aufklärung? Madeleine Leijonhufvud, die bereits an der Gesetzesnovelle von 2005 beteiligt war, bezeichnet das schwedische Sexualstrafrecht als „lasch“ – zumindest im Vergleich zu der Gesetzeslage in angelsächsischen Ländern. Hier nämlich ist fehlende Zustimmung („consent“) seit Jahrzehnten Bestandteil des Straftatbestandes „Sexuelle Nötigung“. Auch in Schweden wird nun über eine entspre- chende Verschärfung des Gesetzes nachgedacht, Leijonhufvud plädiert dafür. Doch auch hier würde sich die Frage nach den Beweisen stellen: In der Regel wird wieder Aussage gegen Aussage stehen. Ohne ein Geständnis des Täters wird kaum ein Beweis für fehlende Zustimmung zu finden sein. Ulrika Andersson ist ohnehin nicht der Meinung, dass die Beschaffenheit des Gesetzes ausschlaggebend ist. Der Umgang mit Sexualstraftaten und entsprechende Aufklärung, so ist sie überzeugt, sind hier wesentlich wichtiger. Einen wichtigen Schritt in Richtung Bewusstseinsbildung ist man in Schweden bereits gegangen. In der Debatte um den Assange-Fall berichtete die Journalistin Johanna Koljonen in der Tageszeitung „Dagens Nyheter“ über eigene verstörende sexuelle Erfahrungen: Ein älterer Mann hatte die 32-Jährige zu ungeschütztem Verkehr gedrängt. Indem sie diese Erfahrung öffentlich machte, brach Johanna Koljonen einen Damm. Immer mehr Frauen und auch Männer erzählten online von ungewollten Sexualkontakten, die nach geltendem Recht jedoch noch keinen Straftatbestand erfüllen. Mittlerweile entstand daraus die Website „Prataomdet. se“ (Redet darüber). Sie hat regen Zulauf.(11)