Die Comic-Autorin ULLI LUST hat eine Graphic Novel über den Anfang der Geschichte geschrieben. Spoiler: Es war anders als gedacht. Von Lea Susemichel
Bei den Bonobos haben die Weibchen das Sagen. Eine Studie der US-Universität Harvard und des Max-Plank-Instituts für Verhaltensbiologie, bei der die Menschenaffen über dreißig Jahre lang beobachtet wurden, hat nun herausgefunden, wieso das so ist. Es sind Allianzen mit anderen weiblichen Tieren, durch die Bonoboweibchen ihre Macht sichern können, obwohl die Männchen stärker und physisch überlegen sind. „Weibchen unterstützen andere Weibchen, unabhängig davon, wie nah sie sich sonst innerhalb der Gruppe stehen und auch unabhängig davon, welche Gruppenzugehörigkeit sie haben“, so die Bilanz der Wissenschaftler:innen.
Auch die Autorin und Comiczeichnerin Ulli Lust, die sich 2009 mit „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ im Graphic-Novel-Genre einen Namen machte, widmet sich in ihrer neuesten Veröffentlichung „Die Frau als Mensch“ u. a. den Bonobo-Gemeinschaften. Im Grunde seien es „Lesbenparadiese“, die Äffinnen würden einander sogar beim Sex vorziehen. Gruppenvergewaltigungen oder Säuglingstötungen, wie sie beispielsweise bei den Schimpansen vorkommen, gibt es bei den Bonobos nicht, dafür Bisswunden und verletzte Penisse bei Männchen, die sich nicht unterordnen.
Ähnlich wie bei den Bonobos sei es wohl auch bei vielen unserer Vorfahr:innen gewesen, zeigt Lust in ihrem detailreich illustrierten Buch. Die Menschheitsgeschichte sei von Matriarchaten und gleichberechtigten Gesellschaften geprägt. Unser Bild vom Steinzeitmenschen als bärtigem Wilden mit Keule, und die Mär von den aggressiven Jägern und den häuslichen Sammlerinnen verdanken wir der androzentrischen und von Männern dominierten Geschichtsschreibung, die von der patriarchalen Gegenwart fälschlich auf die Vergangenheit schloss.
Es sind kleine Figuren wie die der berühmten Venus von Willendorf, die Zeugnis davon ablegen, dass stattdessen Frauen gehuldigt wurden. Und zwar über die allerlängste Zeit. Das Gebiet, in dem sich diese Figurinen finden, erstreckt sich über den halben Globus und über einen Zeitraum von 30.000 Jahren. Es ist die auf 43.000 bis 35.000 v. Chr. datierte Venus vom Hohlefels, die prägend für die Kunst der folgenden dreißigtausend Jahre werden wird. Sie ist das erste Zeugnis einer ikonischen Frauenfigur, die ohne Scham Brüste, Bauch und Vulva präsentiert.
Dass diese selbstbewusste Geste später im Kunstkanon der europäischen Kulturgeschichte männlichen Figuren wie Michelangelos David vorbehalten war, während nackte Göttinnen kauernd ihre Blöße verstecken mussten, hat der Autorin seit frühester Kindheit Rätsel aufgegeben, wie sie im autobiografisch grundierten Kapitel „Scham“ schreibt. Denn schon als Mädchen habe sie angesichts des schutzlos baumelnden Genitals spontan „Penismitleid“ empfunden.
Ulli Lust schreibt keine stringente, feministische Frühgeschichte der Menschheit, sondern springt in den in sich geschlossenen Kapiteln von Menschenknochen zu Menstruationsblut oder der Bedeutung der aus Ocker gewonnenen Farbe Rot. Und sie springt auch in die Gegenwart, wenn sie sich den perfektionierten Jagdkünsten der Khoisan-Buschleute in Botswana und ihrer Vertreibung aus der Khalahari widmet. Trotz Gerichtsbeschluss, wonach die Umsiedlungen rechtswidrig waren, müssen sie dort nun um Jagdrechte und den Zugang zu Wasser kämpfen – während es gleichzeitig Bewilligungen für Safari-Tourismus und Rohstoffabbau gibt.
Zentrales Thema der lesenswerten Graphic Novel ist nicht nur die These, dass es jahrtausendelang die Darstellung einer weiblichen Figur war, die den Menschen an sich repräsentierte. Mit Verweis auf die Forschungen der Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy zeigt Lust außerdem, dass es insbesondere die Fähigkeit zu Empathie ist, die den „ultrasozialen“ Menschen erfolgreicher gemacht hat als andere Primaten. Die Menschheitsgeschichte ist demzufolge also gar nicht von Konkurrenz und Aggression geprägt, sondern von Solidarität, so wie sie von freigiebigen Wildbeuter-Gemeinschaften bis heute gelebt wird. Und von den Bonoboweibchen.