ManuEla Ritz und Simbi Schwarz sind Mutter und Tochter. Gemeinsam haben sie ein Buch gegen die Diskriminierung von Kindern durch Erwachsene geschrieben. Lea Susemichel hat mit den beiden über Adultismus und Kindheit als Konstrukt gesprochen.
an.schläge: Simbi, in eurem gemeinsamen Buch beklagst du, dass alle Adultismus-Definitionen von Erwachsenen stammen würden. Deshalb hast du mit elf Jahren eine eigene formuliert: „Adultismus ist, wenn Größere Kinder absichtlich runtermachen und sie die ganze Zeit auch damit aufziehen, dass sie halt kleiner sind. Und vielleicht sagen sie dann auch, dass sie nicht so gut sind wie sie.“ Ist das eure Adultismus-Definition?
Simbi Schwarz: Ja. Kindern werden bestimmte Fähigkeiten und Verantwortung abgesprochen, nur weil sie Kinder sind.
ManuEla Ritz: Wir verwenden beide auch gern die Definition von Adam Fletcher. „Wenn eine Entscheidung ausschließlich auf der Grundlage des Alters getroffen wird anstatt aufgrund der Fähigkeiten eines Menschen, ist das Diskriminierung. Eine Sprache, die ausschließt, verharmlost oder junge Menschen kleinmacht, ist Diskriminierung. Gesetze, die benutzt werden, um Menschen aufgrund ihres Alters zu bestrafen, sind diskriminierend. Jedwedes Verhalten und jede Einstellung, die routinemäßig jungen Menschen gegenüber voreingenommen ist, nur weil sie jung sind, ist Diskriminierung.“
Inwieweit spielt Intersektionalität bei Adultismus eine Rolle? Sind Mädchen anders von Adultismus betroffen als Jungen? Children of Color anders als weiße Kinder?
S. S.: Beim Geschlecht sehe ich gar nicht so viele Unterschiede, aber eine dunklere Hautfarbe oder Behinderung führen oft noch stärker dazu, dass Kindern Fähigkeiten abgesprochen werden. Der Satz „Du sprichst aber gut Deutsch“ gegenüber einem Kind mit dunklerer Haut ist so ein Beispiel. Oder dass man Kindern mit Behinderung einfach hilft, statt sie zu fragen und ihnen Hilfe anzubieten.
M. R.: Adultismus funktioniert ja so: Ich sehe dein Alter und behandle dich deshalb anders, als ich mit einer erwachsenen Person umgehen würde. Das erleben die allermeisten Kinder. Dieses Belächelt-Werden, Nicht-beachtet-, Nicht-ernst-genommen-Werden.
Bei Intersektionalität legen sich nun verschiedene Layer übereinander. Das heißt, die allermeisten Kinder erleben Adultismus und manche Kinder machen noch Diskriminierungserfahrungen, die über Adultismus hinausgehen.
Aber es gibt doch geschlechtsspezifische Unterschiede? Mädchen werden z. B. viel früher dazu verdonnert, im Haushalt zu helfen, als Jungen oder dazu, kleinere Geschwister zu betreuen.
M. R.: Ja, aber das ist Sexismus, der eben auch Mädchen betrifft. Und Adultismus befördert, dass ich ihn durchsetzen kann, dass ich dir sagen kann, was du tun musst. Von Sexismus sind Frauen später immer noch betroffen, aber dann zumindest nicht mehr von Adultismus. Diese Schwelle hast du noch nicht erreicht, Simbi, oder?
Darf ich fragen, wie alt du bist, Simbi?
S. S.: 19, fast zwanzig.
M. R.: Das z. B. war jetzt ein klassisch adultistischer Akt. Warum fragen wir nur Kinder nach ihrem Alter, warum fragen wir Erwachsene nicht? Und was ändert sich durch die Antwort? Die Frage nach dem Alter ist das Äquivalent zur rassistischen Frage „Wo kommst du her?“.
Habt ihr euch auch historisch mit dem Entstehen von Adultismus beschäftigt? Seit wann gibt es Adultismus?
M. R.: Kindheit ist ja ein Konstrukt, das nach Historiker Philippe Ariès im 16./17. Jahrhundert entstanden ist. Aber ich weiß nicht, ob Adultismus tatsächlich erst aufgetaucht ist, als es auch den Begriff und das Konzept Kindheit gab. Da hätte ich manchmal gerne eine Zeitmaschine, um das zu erforschen. Was sich schon sagen lässt, ist, dass sich der Adultismus durch bestimmte Entwicklungen, z. B. durch die Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention, ändert. Die Kinderrechte und die 68er-Bewegung haben beispielsweise ein Nachdenken über körperliche Sanktionen eingeleitet. Der Begriff Adultismus ist in den USA in den 1980ern zum ersten Mal aufgetaucht. Und als ich vor zwanzig Jahren angefangen habe, mich mit dem Thema zu beschäftigen, gab es im deutschsprachigen Raum noch nichts dazu.
Inwiefern hat die Beschäftigung mit Adultismus eure Beziehung als Mutter und Tochter geprägt?
S. S.: Es gibt natürlich keinen vollständig adultismusfreien Raum, aber meine Mama hat mich und meinen Bruder nie adultistisch behandelt. Was für mich dabei besonders wichtig war, dass sie mich oft gefragt hat, wenn sie etwas nicht wusste, dass sie mir damit das Gefühl gegeben hat, dass sie auch etwas von mir lernen kann.
Ihr sprecht von „Kritischem Erwachsensein“. Was ist damit gemeint?
M. R.: Das ist wie bei Antirassismusarbeit und Critical Whiteness: Weiße müssen unbedingt auch kritisch über ihr Weißsein nachdenken, wenn sie Rassismus bekämpfen wollen. Wenn wir als Erwachsene über Adultismus sprechen und uns das System anschauen, muss uns Erwachsenen klar sein, dass wir dieses System am Laufen halten. Das heißt, wir müssen uns mit uns selbst auseinandersetzen. Nur so kann ich diesem System machtkritisch begegnen, um als Mutter oder als Pädagogin adultistisches Denken und Handeln auszuhebeln.
Was muss ich dafür konkret tun? Welches Verhalten sollte ich ändern?
M. R.: Indem ich Kinder z. B. anders anspreche, ein anderes Miteinander lebe. In meinem Buchteil formuliere ich dreißig konkrete Schritte für ein kritisches Erwachsensein.
S. S.: Sie sind sogar alle Simbi-approved!
Für mich als Mutter ist es am schwierigsten, die Balance zu finden zwischen der Selbstbestimmtheit meiner Kinder und ihrem Schutz, also der Pflicht, sie manchmal auch gegen ihren Willen vor etwas zu beschützen. Bei einem heranrasenden Auto lässt sich das noch leicht entscheiden, meist ist es aber deutlich komplizierter.
S. S.: Ich unterscheide dafür zwei Arten von Regeln: Tu-Regeln und Veränderungsregeln. Tu-Regeln dienen oft dem Schutz – die Regel, dass Kinder sich die Zähne putzen müssen, schützt vor Karies. Eine Veränderungsregel wäre, einem sehr quirligen, aufgedrehten Kind zu sagen: „Jetzt sei doch endlich mal still, benimm dich nicht immer so.“ Das führt dazu, dass das Kind sich nicht richtig fühlt. Um die beiden auseinanderzuhalten, kann man sich immer fragen, ob man gut begründen kann, warum man von Kindern etwas verlangt.
M. R.: Oft haben ja Verbote mit den eigenen Grenzen zu tun. Deshalb sollten Erwachsene sich fragen: Was sind meine Befürchtungen? Haben sie mit Glaubenssätzen zu tun, die mir beigebracht wurden, die aber eigentlich zu hinterfragen sind? Ein Beispiel: Simbi hat sich ein Buch gewünscht, das mir für ihr Alter damals viel zu blutrünstig schien. Simbi hat dann eine Lösung gefunden: Wir haben einen Vertrag gemacht, dass sie sofort aufhört zu lesen, wenn es ihr zu gruselig wird.
Und was müsste sich auf (gesellschafts-)politischer Ebene ändern, um Kindern und Jugendlichen mehr Partizipationsmöglichkeiten zu geben? Damit sie in der Pandemie mehr Mitspracherecht haben oder auch bei der Klimapolitik, deren Konsequenzen sie ja mehr betreffen als alle anderen Generationen.
M. R.: Gerade bei der Klimapolitik ist es ja so offensichtlich, wie adultistisch unser System ist. Bezeichnend fand ich dabei auch, wie über Greta Thunberg gesprochen wurde, wie sie runtergemacht wurde. Es ist toll, dass sie auf all den Podien sprechen darf und sie hat viel bewirkt, aber das ändert leider nichts daran, dass die Stimme eines Kindes eben nicht dasselbe Gewicht hat wie die von Trump oder Putin.
Mir fällt es schwer, über große gesellschaftliche Lösungen nachzudenken. Mein Ansatz ist, dass wir alle zu kritischen Erwachsenen werden und uns als Eltern, als Erzieher:innen, als Lehrer:innen um Veränderungen bemühen sollten. Das wäre ein großartiger Schneeballeffekt, der vieles auch auf gesellschaftlicher Ebene verändern könnte.
S. S.: Ich finde es furchtbar traurig, dass sich auch während der Corona-Pandemie so deutlich gezeigt hat, dass Kinder der Politik einfach scheißegal sind. Natürlich bekommt der Bundestag eine Belüftungsanlage, aber die Schulen bekommen keine. Die Schulen werden spät oder gar nicht geschlossen, obwohl das Ansteckungsrisiko so hoch ist. Es wird so oft einfach über uns bestimmt und niemand kommt auf die Idee, junge Menschen zu fragen. Deshalb ist mein Appell an alle: nachfragen, zuhören und sich das dann auch wirklich zu Herzen zu nehmen. •
ManuEla Ritz engagiert sich seit zwanzig Jahren gegen Adultismus: als Mutter, im Rahmen von Vorträgen, Performances und Workshops sowie als Autorin.
Simbi Schwarz hat bereits als Kind begonnen, Workshops zu teamen, und vertritt bis heute eine starke junge Stimme im Kampf gegen die Ungerechtigkeiten zwischen Jung und Alt.