Golnar Shahyar verbindet verschiedenste Traditionen zwischen Jazz, Kammermusik, Pop, nordwest-afrikanischer Folklore und Mikroton-Musik – und ist Aktivistin für die feministische Revolution im Iran. Von Sonja Eismann
„Bitte sagt meiner Mutter, dass sie keine Tochter mehr hat“ ist eine der Parolen der feministischen Revolution im Iran. Protestierende rufen sie immer wieder, um daran zu erinnern, dass die Angst vor den Kanonen, Panzern und Gewehren des Regimes jetzt keine Macht mehr über sie hat. Dass sie sogar ihr eigenes Leben riskieren, um für die Freiheit anderer zu kämpfen. Die Musikerin Golnar Shahyar hat diese Zeilen in einen Song gegossen. Es ist ein Song, den alle, die ihn jemals gehört haben, schwerlich wieder vergessen werden. In einer Live-Aufnahme aus dem Jazzclub Porgy & Bess in Wien, wo die 1985 in Teheran geborene Multi-Instrumentalistin und Sängerin seit 2008 lebt, sieht man Golnar am Flügel sitzen. Sie beginnt, auf Farsi, mit der ruhigen Aufforderung, das Recht auf Zärtlichkeit, auf das Küssen zurückzuerobern – um sich dann immer lauter, immer leidenschaftlicher bis zu der revolutionären Vision zu steigern, dass der Iran von all den protestierenden Mädchen und Jungen, von den Müttern und Vätern von Baluchistan bis Kurdistan zurückerobert werden wird. Und wie sie da singt, mit erhobenem Kopf und von Schmerz und Hoffnung gleichzeitig gezeichnetem Gesicht, scheint sie wirklich mit der Kraft der Stimmen aller Demonstrierenden gemeinsam zu singen, ihre Wut in die gesamte Welt zu tragen. Als könnte sie mit der Intensität ihres Gesangs die Wände des Gefängnisses, in das sich der Iran verwandelt hat, zum Einsturz bringen.
Auch im Interview ist Shahyar, die bis zu ihrem 17. Lebensjahr in Teheran lebte und dann nach einigen Jahren in Kanada mit 23 zum Musikstudium nach Wien kam, deutlich anzumerken, wie sehr allein das Sprechen über dieses Lied sie bewegt. Denn neben ihrer unfassbar umtriebigen Tätigkeit als Musikerin – sie ist neben ihrer Solokarriere in mehreren Bands wie Choub und Gabbeh aktiv und hat schon an prestigereichen Orten wie der Royal Festival Hall oder dem Wiener Musikverein performt – sieht sie sich immer auch als Aktivistin, die mit ihrer Kunst den Anliegen von Marginalisierten eine Stimme geben will. Das hat sicherlich auch mit ihrer eigenen Geschichte zu tun, denn an eine Karriere als Sängerin war im Iran, wo Frauen das öffentliche Singen verboten ist, nicht zu denken. „Ich komme aus einer iranischen Mittelklassefamilie, wo es damals ganz normal war, die Töchter Musikinstrumente lernen zu lassen. Ich habe mich für Klavier, meine Schwester für Geige entschieden, wir waren auch in einer Orff-Gruppe. Ich hatte schon immer diese tiefe Sehnsucht danach zu singen, aber diese Vision war für mich im Iran unmöglich. Ich halte Singen nach wie vor für einen inhärent politischen Akt, und für mich sind Kunst und Politik ohnehin nie zu trennen. Natürlich braucht es für konkreten politischen Aktivismus noch ein anderes Level von Engagement. Für mich war das durch meine Familiengeschichte gegeben, wo immer schon viel politisch diskutiert und analysiert wurde. Die Folgen der islamischen Revolution haben meine Familie von Grund auf erschüttert und wir haben einige Mitglieder verloren“, erzählt Shahyar im an.schläge-Gespräch.
Ihr Leben auf drei Kontinenten, ihr stetes Unterwegssein hat nicht nur den vielfältigen musikalischen Stil der Komponistin und Performerin geprägt, es ist der Motor für ihr Schaffen. Denn Musik ist für sie immer Sprache, und all die verschiedenen Einflüsse, von denen sie nach eigener Aussage nie genug bekommen kann, erweitern kontinuierlich ihr Vokabular. Kein Wunder, dass Shahyars Musik in kein vorgefertigtes Genre passt und dadurch vollkommen einzigartig wirkt: Sie ist genauso vom klassischen europäischen Kanon und seiner Kammermusik geprägt wie von Musiken aus dem nordwestlichen Afrika, von alten iranischen Revolutionsliedern wie von Folklore und MTV, von Jazzimprovisation ebenso wie von mikrotonaler oder elektronischer Musik. Die Energie, die aus ihren Kompositionen sprudelt, setzt sich auch in ihrem Leben fort. Entsprechend energisch fordert sie auch, dass die weltweite Unterstützung für die feministische Revolution im Iran auf keinen Fall abreißen darf: „Wir im Westen müssen unser Bewusstsein und unsere Augen für diesen völlig neuen Feminismus aus dem Iran öffnen. Denn er ist auf ganz neue Weise intersektional und dabei auch auf fürsorgliche Weise mütterlich – wir alle können davon lernen.“ •
Sonja Eismann lebt als Mitherausgeberin des „Missy Magazine“ in Berlin und ist immer noch überwältigt von Golnar Shahyars Power – und von der iranischen feministischen Revolution, für die weltweit erstmalig alle Genders gemeinsam kämpfen.