Der unter Feministinnen nicht unumstrittene Regisseur LARS VON TRIER widmet sich in seinem neuesten Zweiteiler dem Thema Nymphomanie. Doch obwohl es filmisch explizit um die Sexualität einer Frau gehen soll, scheut „Nymphomaniac I“ das weibliche Genital. Von Sophie CHARLOTTE RIEGER
„Nymphomaniac“ präsentierte sich schon im Entstehungsprozess fleißig als filmischer Skandal des Jahrhunderts. Oder anders formuliert: Die berichterstattende Presse schnappte nur zu bereitwillig nach dem Knochen, den ihr Lars von Trier vorwarf. Achtung, Achtung: Wir werden echten Sex von echten Menschen mit echten Genitalien sehen! Deutlich interessanter – vielleicht auch „skandalöser“ – als die vermeintlich pornografischen Szenen ist jedoch das Vorhaben des Films, die Sexualentwicklung einer Nymphomanin von der Kindheit bis ins mittlere Alter zu veranschaulichen: Hauptfigur Joe, je nach Altersabschnitt von Stacy Martin oder Charlotte Gainsbourg verkörpert, erzählt über insgesamt zwei Spielfilme hinweg ihren nymphomanischen Werdegang von kindlichen Spielen über wilde Teenager-Experimente bis hin zu Sadomasochismus und ihrem körperlichen und seelischen Verfall. Dabei drängt sich bezüglich der bei der Berlinale präsentierten Langfassung des ersten Teils, „Nymphomaniac I“, eine kritische Beobachtung auf: die frappierende Abwesenheit der Vulva. Vor dem Hintergrund des viel diskutierten und kritisierten Frauenbilds im Ouevre Lars von Triers vielleicht weniger überraschend, steht diese visuelle Aussparung doch im eklatanten Gegensatz zum medial inszenierten Skandal um die explizite Darstellung von Sexualität auf der Leinwand.
Brötchen-ähnlicher Schlitz. Die Vulva, Vagina, Muschi, Möse oder wie wir sie auch nennen wollen ist das primäre weibliche Geschlechtsorgan. Hier befindet sich die Klitoris, die auch hinsichtlich ihrer Größe einen mit dem Penis vergleichbaren Schwellkörper darstellt. Die Vorzeigemuschi jedoch, wie sie in Mainstream-Pornos zu sehen ist und wie Schönheitschirurgen sie aktuell auf der ganzen Welt als Idealbild etablieren wollen, versteckt dieses Potenzial: Schamlippen sind pfui, der sensible Kitzler idealer Weise ebenfalls unsichtbar. Am besten Mann sieht nichts außer eine Brötchen-ähnlichen Schlitz – ein Bild, das zugleich kindlich wie auch auf paradoxe Weise asexuell wirkt. Die Vagina wird also selbst dann versteckt, wenn sie gezeigt wird, bzw. ihre Darstellung dient der ästhetischen Befriedigung des männlichen Auges, nicht aber der Sichtbarmachung der weiblichen Sexualität. Claudia Richarz und Ulrike Zimmermann gehen in ihrem Dokumentarfilm „Vulva 3.0“ gar so weit anzudeuten, der Unterschied zwischen einer Labioplastik und der auch als Genitalverstümmelung bekannten genitalen Beschneidung der Frau sei nur ein definitorischer. Diese Dokumentation ist wie die US-amerikanische Satire „Teeth“ hilfreich bei der Analyse der vaginalen Lücke, die in von Triers Film klafft. Bissige Muschi. In „Teeth“ steht die konservativ erzogene Protagonistin ihrer sexuellen Entwicklung weitgehend ratlos gegenüber, zumal sich ihre Muschi als äußerst bissig erweist. Die Vagina Dentata ist hier eine Metapher für die als Bedrohung empfundene Sexualität der Frau. Dahinter steht vermutlich dieselbe Angst, die die Menschheit befiel, als Frauen in die Arbeitswelt und Politik eintraten. Die durch das Patriarchat aufrecht erhaltene Stabilität der heteronormen Gesellschaftsordnung gerät durch Entwicklungen dieser Art gefährlich ins Wanken. Die Folgen der weiblichen Selbstbehauptung, ob nun beruflich, politisch oder sexuell, sind Chaos und Anarchie, Mord und Totschlag und schließlich der Untergang der Zivilisation.
Ein Weg, der mösealen Bedrohung Herr zu werden, um diese gesellschaftliche Apokalypse zu vermeiden, ist ihre Unsichtbarmachung. So stößt die Besitzerin der Vagina Dentata im Film „Teeth“ schon bei ihrer Recherche auf Widerstände, denn im Biologiebuch ihrer Schule ist selbst die schematische Darstellung der Vagina mit einem Sticker überklebt. „Amerikanische Prüderie und ihre Folgen“, könnte hier ein Fazit lauten, würde uns der Dokumentarfilm „Vulva 3.0“ nicht vor Augen führen, dass unsere eigene Gesellschaft im Umgang mit der Vulva kaum fortschrittlicher ist.
Eine Möse in voller Pracht. Wie aber geht nun Lars von Trier bei der Darstellung der pathologischen Sexualentwicklung seiner Heldin mit dem weiblichen Genital um? Trotz explizit gedrehter Sexszenen, inklusive mehrerer deutlich sichtbarer Penisse in unterschiedlichen Härtegraden, darf der_die Zuschauer_in auch in der Langversion von „Nymphomaniac I“ nur zweimal einen ausgiebigen Blick auf eine Vagina werfen. In den übrigen erotischen Passagen ist der Blick durch Winkel, Kleidung oder männliche Genitalien verstellt. Eine der zwei explizit präsentierten Vulven jedoch befindet sich auf einem OP Tisch – ein Setting, das wahrlich nicht als Ausdruck lustvollen Sexualerlebens gewertet werden kann. Die zweite Szene schließlich zeigt eine Möse in voller Pracht, inklusive aufklaffender Labien und Kitzler. Und nicht nur das: Die Nahaufnahme fängt sogar die orale Befriedigung der Protagonistin und somit einen einzig auf sie fokussierten Moment der Lust ein.
In der geschnittenen Kinofassung wird diese Großaufnahme fehlen. Das weibliche Geschlecht ist wohl zu aufdringlich, vielleicht zu bedrohlich für das breite Publikum. Bereits in der Festivalfassung marginalisiert, wird die Vulva in „Nymphomaniac I“ für das Kinopublikum umso unsichtbarer bleiben. Das ist Lars von Trier schwerlich anzukreiden, hat er sich doch deutlich von der gekürzten Fassung seines Films distanziert. Vielmehr ist diese Zensur Ausdruck der von Richarz und Zimmermann dargelegten Unsichtbarmachung des weiblichen Geschlechts.
Möseale Abstraktion. Dass in einem Film über die sexuelle Entwicklung einer Frau nur ein einziges Bild ihres Sexualorgans zu sehen ist, bleibt jedoch unabhängig von den Gründen dieser Auslassung bemerkenswert bis absurd, insbesondere in Hinblick auf das Kinoplakat von „Nymphomaniac I“. Dieses wirbt mit der mösealen Form des Buchstaben „O“, während der Film dem Phallus klar Priorität einräumt. Auch wenn das männliche Glied hier ohne Frage als Objekt der Begierde eine gerechtfertigte Sichtbarmachung erfährt, gibt es keinen Grund, der Vagina diese Bühne vorzuenthalten. Michael Fassbenders Penis beispielsweise hat durch den thematisch ähnlich gelagerten, aber maskulin zentrierten Film „Shame“ geradezu Berühmtheit erlangt. Warum also nicht mehr solcher Szenen, die uns die Lust der Nymphomanin ganz plastisch durch die Abbildung ihres Geschlechts vor Augen führen? Absurderweise ist es ausgerechnet „Nymphomaniac II“, in dem es unter anderem um den Verlust der Libido geht, der vor der Darstellung der Vagina weit weniger zurückschreckt als der erste Teil des Films.
So drängt sich abschließend die Frage auf, wie „Nymphomaniac I“ die sexuelle Entwicklung einer Frau betrachten kann, wenn er das Organ ihrer Lust visuell negiert? Die Antwort ist ganz einfach: Er kann es nicht. Und vielleicht will er es auch gar nicht. In „Nymphomaniac I“, der einer Trilogie namens „Depression“ angehört, geht es um vieles – Sucht, Trauma, Schuld – jedoch nicht um die Sexualität einer Frau. Das Selbstmarketing der vergangenen Monate hat viele erfolgreich davon abgelenkt, dass dieser Film eigentlich einen ganz anderen Skandal birgt als die kleine Handvoll expliziter Sexszenen. Und der besteht darin, dass ein Film über eine weibliche Nymphomanin nicht in der Lage ist, dem sexuellen Lustempfinden seiner Heldin visuell Ausdruck zu verleihen.
Sophie Charlotte Rieger ist freie Journalistin und Filmkritikerin sowie Chefredakteurin des Blogs filmosophie.com. Ihr besonderes Interesse gilt der Darstellung von Geschlecht und Sexualität im zeitgenössischen Film sowie der feministischen Filmkritik.
1 Kommentar zu „Die unsichtbare Vulva“
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