Birgt die Krise Chancen für eine sozialökologische Wende? Die Soziologin Stefanie Graefe sieht wenige Anzeichen, dass die Pandemie zu einem politischen Wandel führen wird. Interview: Lea Susemichel
an.schläge: Sie sprechen von Krisenkapitalismus, was ist damit gemeint? Und inwieweit ist die Corona-Krise auch eine Krise des Kapitalismus?
Stefanie Graefe: Der Kapitalismus ist seinem Wesen nach krisenförmig, das wissen wir seit Marx. Von daher ist der Begriff „Krisenkapitalismus“ ein bisschen wie der sprichwörtliche weiße Schimmel. Was er zeigen soll, ist, dass die angeblich stabile neoliberale Hegemonie zunehmend ihre destruktive Seite offenbart – und dies auch für immer mehr Menschen erkennbar wird. Allerdings war „der“ Kapitalismus immer schon gut darin, für die selbst geschaffenen Probleme Lösungsrezepte anzubieten, die das System nicht in Frage stellen, sondern weiter stabilisieren. Gegenwärtig sind das vor allem die Behauptung, ein technologisch gestützter, „grüner Kapitalismus“ könne die katastrophalen Folgen des Klimawandels abbremsen.
Auch die so genannte „Resilienz“, also die Kunst der Krisenfestigkeit, ist ein solches Rezept, das nicht zuletzt im Arbeits- und Gesundheitsschutz boomt: Wer in Folge von Vermarktlichungsdruck, Prekarität oder ausufernder Arbeitsanforderungen krank wird, der*die kann immer noch an der eigenen Resilienz, d.h. an der Fähigkeit arbeiten, mit Stress so zurechtzukommen, dass es zu keinen Produktivitätseinbrüchen kommt.
Ihr letztes Buch beschäftigt sich kritisch mit Resilienz, ein Konzept, das sicher auch in Post-Corona-Zeiten Konjunktur haben wird, wenn es darum gehen wird „die Krise zu meistern“. Was ist so problematisch daran?
Bei Resilienz also der Kunst, mit Krisen zurechtzukommen, geht es um alles mögliche; das Spektrum reicht von Arbeitsstress über die Folgen von Austeritätspolitik, humanitäre Katastrophen bis Klimawandel: Überall wird Resilienz als Ausweg aus dem Schlamassel propagiert. Im Kern besagt das Konzept, dass wir an krisenhaften Bedingungen unseres Daseins nichts ändern können und uns deshalb besser an diese anpassen, „adaptieren“ müssen. Das ist nicht unbedingt pessimistisch gemeint, im Gegenteil: Mit Resilienz ist immer auch die Verheißung auf mehr Erfolg, Stabilität oder Glück verbunden. Das Problem daran ist, dass es ein radikal entpolitisierendes Konzept ist. Die Idee, dass wir kollektiv die Bedingungen, unter denen wir leben, beeinflussen und zum Besseren verändern können – also das, was man landläufig als „Politik“ bezeichnet – erscheint im Zeichen von Resilienz bestenfalls als naiver Utopismus.
Die ganz grundlegende Frage in dieser Krise scheint zu sein, ob die Pandemie für einen sozial-ökologischen Wandel genutzt werden kann. Es gibt ja durchaus ermutigende Entwicklungen, etwa die neue (freilich derweil nur symbolische) Wertschätzung von vornehmlich weiblicher Care-Arbeit oder die Skandalisierung von Arbeitsbedingungen wie etwa in deutschen Schlachthöfen.
Andererseits steht uns eine Weltwirtschaftskrise bevor, deren Überwindung alles andere zweitrangig werden lassen könnte – insbesondere die Klimakrise. Welche politischen Forderungen sollten jetzt stark gemacht werden?
Ich habe wenig Hoffnung, dass die Pandemie für eine sozial-ökologische Wende genutzt wird. Sicherlich wird es an der einen oder anderen Stelle auch positive Veränderungen geben – aber ich glaube weder, dass die Fleischindustrie noch die prekären Arbeitsbedingungen im Care-Bereich und erst recht nicht das sozialökologische Desaster nun plötzlich ganz neu verhandelt werden – im Gegenteil: In Deutschland wird ja schon eifrig über Kaufpräminen für Autos und Staatshilfen für Lufthansa diskutiert. Von daher sind die alten politischen Forderungen auch die neuen: Anerkennung von Care-Arbeit, die sich nicht auf symbolische Gesten beschränkt, eine Grundsicherung, die diesen Namen auch verdient, und eine radikale sozialökologische Wende, in der statt der mantraartigen Wiederholung des Wachstumsimperativs endlich die Frage gestellt wird, was und wie produziert und konsumiert wird. Immerhin das hat ja die Pandemie gezeigt. Dass es durchaus wochenlang auch ohne Shopping und Wochenendtrips nach Mallorca geht. Allerdings nehme ich nicht wahr, dass daraus jetzt eine breitere gesellschaftliche Debatte entstanden wäre.
Die Corona-Krise hat auf der individuellen Ebene widersprüchliche Effekte. Einerseits führt sie zu großer Überforderung zuhause (insbesondere bei Müttern), zu Isolation und Zukunftsängsten, andererseits erleben viele den erzwungenen Shutdown zumindest teilweise auch als Erleichterung – in Japan etwa hat das Nachlassen des gewaltigen Arbeitsdrucks zu einer unerwarteten Verbesserung der psychischen Gesundheit geführt. Welche Konsequenzen sollten daraus gezogen werden?
Eine konkrete Konsequenz könnte sein, das Recht, wohlgemerkt, sehr wichtig: nicht die Pflicht, auf mobiles Arbeiten gesetzlich zu verankern, also Beschäftigten mehr Möglichkeiten einzuräumen, über ihren Arbeitsort zu entscheiden. Für viele ist das aber sowieso keine Alternative – wer im Einzelhandel oder in der Pflege arbeitet, kann nicht ins Home-Office. Ich würde auch stark bezweifeln, dass hier die psychische Belastung gesunken ist. Eine willkommene Zwangsentschleunigung ist der Lockdown eher für privilegierte Angestellte im Dienstleistungsbereich; wer sich Sorgen um seine ökonomische Zukunft macht, wessen Einkommen so gering ist, dass auch die Wohnung klein ausfällt, wer kleine Kinder oder Menschen mit Pflegebedarf zu betreuen hat, für den*die steigt die Belastung.
Sie haben gemeinsam mit Silke van Dyk und Tine Haubner gerade über „Alter in der Pandemie” 1 geschrieben. Es ist ja schon von einem neuen Generationenkonflikt die Rede. Wie ist das zu beurteilen?
Das sehe ich sehr kritisch. Wir beobachten eine merkwürdige Ambivalenz: Einerseits sorgt man sich um die Gesundheit „der“ Alten. Andererseits werden sie – mehr oder weniger deutlich – dazu aufgefordert, sich freiwillig aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen. In Pflegeheimen und Hospizen gelten teils drastische Besuchsregelungen, während das Personal und Bewohner*innen nur unzureichend geschützt sind. Wir befürchten jedenfalls, dass im Zuge der Pandemie negative Altersbilder, die die „Kosten“, die ältere Menschen der Gesellschaft angeblich aufbürden, wieder neu an Bedeutung gewinnen.
Stefanie Graefe ist Privatdozentin am Institut für Soziologie in Jena mit Schwerpunkt Politische Soziologie. Zuletzt von ihr erschienen: Resilienz im Krisenkapitalismus. Wider das Lob der Anpassungsfähigkeit.