Dass Dicksein zu einer Reihe gesellschaftlicher Benachteiligungen führt, ist an sich keine Neuigkeit. Warum die Diskriminierung dicker Menschen im Gesundheitssystem sogar lebensbedrohlich sein kann, erklärt ANITA DREXLER.
Renate war lang nicht mehr bei ihrem Gynäkologen. Es ist ihr klar, dass das unvernünftig ist; sie weiß, wie wichtig Krebsvorsorge ist und dass diese im Alter an Bedeutung zunimmt. All das macht ihr Angst. Trotzdem lastet diese Angst weniger auf ihr als jene, dass sich beim Arztbesuch bestimmte Erfahrungen wiederholen könnten.
Vor einigen Jahren hatte sie starke Menstruationsbeschwerden, Dauerblutungen und Schmerzen, die zum Erbrechen führten. Der Kommentar ihres Frauenarztes, eines alteingesessenen Spezialisten in der Wiener Innenstadt: „Solange Sie so aussehen, brauchen Sie sich nicht wundern, wenn mit Ihrem Körper etwas nicht stimmt.“ Renate (Name von der Redaktion geändert) brachte damals etwa neunzig Kilo auf die Waage. Statt einer Diagnose gab es den Vermerk „adipös“ auf ihrer Überweisung. Es folgte Arztwechsel um Arztwechsel, erst nach Jahren die Gewissheit: Endometriose. Obwohl Nachsorgeuntersuchungen bei ihrem Krankheitsbild wichtig wären, meidet Renate seither Arztpraxen. Die Symptome ihrer Krankheit überbrückt sie mit starken Schmerzmitteln; dass ihr Job als Selbstständige zeitliche Flexibilität ermöglicht, ist ihr großes Glück.
Auch Mika vermeidet es seit einem bestimmten Erlebnis zum Arzt zu gehen. Als die* Künstler_in sich nach einer Performance nur mehr hinkend bewegen konnte, suchte sie* einen Orthopäden auf. Der wurde zwar nicht ausfällig, prangerte jedoch den „Lebensstil“ der jungen Frau* an und riet ihr*, weniger zu essen. Auch der Termin fürs MRT war problematisch. Mika wiegt gut 150 Kilogramm; Geräte, die für ihren* Körper breit genug sind, gibt es nur eine Handvoll in Österreich. Nach unzähligen Telefonaten, die jedes Mal die unangenehme Beschreibung ihrer* Situation beinhalteten, fand sie* schließlich ein passendes Gerät: beim Veterinärmediziner.
Gewichtsdiskriminierung ist weit verbreitet. Episoden wie diese sind nicht selten in Österreichs medizinischen Einrichtungen, doch auch weltweit ist es nicht anders. Laut einer Studie der University of California in San Diego aus dem Jahr 2014 erleben 53 Prozent aller übergewichtigen Patientinnen sogenanntes Body Shaming, also eine Herabwürdigung aufgrund ihres Körpers, durch medizinisches Personal; bei den Patienten sind es immer noch 38 Prozent. Eine weitere Studie des Johns Hopkins Berman Institute of Bioethics aus dem Jahr 2013 fand bei Ärzt_innen die Neigung zu verminderter Empathie gegenüber Patient_innen mit erhöhtem BMI. Als häufiges Argument der Mediziner_innen wird die ärztliche Aufklärungspflicht genannt. Übergewicht gilt als Risikofaktor für viele Krankheiten, das soll den Patient_innen vermittelt werden. Die Kehrseite der Medaille ist jedoch: Dicke und fette Menschen gehen aufgrund ihrer Erfahrungen im Behandlungszimmer, die oft von Abwertung geprägt sind, weniger häufig zu Vorsorgeuntersuchungen, wodurch Diagnosen oft stark verspätet erfolgen. Auch im Fall, dass Arzttermine wahrgenommen werden, haben Voreingenommenheit, respektloser Umgang sowie unzureichende medizinische Ausstattung bisweilen weitreichende Folgen.
Für einiges Aufsehen sorgte das Beispiel der US-Amerikanerin Rebecca Hiles. Im Alter von 17 Jahren hatte sie das erste Mal Beschwerden in Form von Migräne- und Hustenanfällen. Besuche bei Ärzt_innen brachten kein klares Ergebnis, meist wurde sie mit Hustensaft und dem Rat, ihr Gewicht zu reduzieren, sich selbst überlassen. In den Folgejahren verschlimmerten sich die Symptome: Die junge Frau spuckte regelmäßig Blut, wurde sogar inkontinent – im Alter von 23 Jahren. Immer wieder suchte sie ärztlichen Rat, immer wieder wurde sie nach Hause geschickt mit Mitteln zur Symptomlinderung und dem Therapievorschlag „Gewichtsreduktion“. Dann, nach einem endlosen Ärzt_innenmarathon, geriet sie endlich an eine Medizinerin, die ihre Beschwerden ernst nahm und gründliche Untersuchungen durchführte. Diagnose: Lungenkrebs. Nur die Entfernung des gesamten linken Lungenflügels konnte Hiles Leben retten.
Sichtbarkeit schaffen. Mit dem Erstarken der Body-Positivity-Bewegung in den letzten Jahren werden auch heikle Themen wie die Benachteiligung dicker Menschen in der Medizin stärker diskutiert. Dennoch sind großangelegte Untersuchungen zum Ausmaß des Phänomens rar. Als dicker Mensch bleiben einem meist nur die eigenen Erfahrungen und jene anderer Betroffener. Wo Zahlen vorliegen, sprechen sie jedoch eine klare Sprache: Es herrscht Handlungsbedarf. Um das Problem der Benachteiligung dicker und fetter Menschen am Gesundheitssektor anzugehen, bräuchte es das Zusammenwirken von Patient_innen, der öff entlichen Hand sowie Mediziner_innen.
Bisher haben Patient_innen die Option, sich bei Verdacht auf ärztliches Fehlverhalten an diverse Stellen wie die Wiener Patientinnen- und Patientenanwaltschaft oder das Bürgerservice des Gesundheitsministeriums zu wenden. Davon wurde aber im Kontext von Gewichtsdiskriminierung bislang kaum Gebrauch gemacht, heißt es auf an.schläge-Anfrage. Niederschwelliger hat man als Patient_in die Möglichkeit, auf Bewertungsplattformen wie DocFinder seine Erfahrungen zu teilen. Wie überall ist auch hier darauf zu achten, seine Kritikpunkte, auch wenn es schwerfällt, objektiv und möglichst emotionslos zu formulieren. Bevor Kritik jedoch überhaupt vorgebracht werden kann, müssen internalisierte Schuldzuweisungen so gut es geht durchbrochen werden, um sich selbst klar zu machen, dass man auch als dicker Mensch ein Recht auf anständige Behandlung hat; fachlich wie menschlich.
Von staatlicher Seite bedarf es einer besseren Nutzung bestehender Infrastruktur sowie Geldmittel für Forschung und Aufklärungsarbeit. Abgesehen von lobenswerten Einzelprojekten wie der laufenden Studie des Wiener Programmes für Frauengesundheit, finden sich derzeit keine staatlich finanzierten Projekte zum Thema. Wenn aus dem Fazit einer aktuellen Studie zur Nutzung der kostenlosen Vorsorgeuntersuchung hervorgeht, dass sozioökonomische Faktoren wie Alter, Geschlecht oder Tabakkonsum sich auf die Inanspruchnahme des Vorsorgeangebotes auswirken, der Faktor „Gewicht“ jedoch unberücksichtigt bleibt, fehlt ein Baustein, der signifikant sein könnte. Den Ärzt_innen schließlich sei in Erinnerung gerufen, dass ihr Beruf ihnen Taktgefühl und Respekt abverlangt. Eigene Vorurteile sind zu hinterfragen; Patient_innen aufgrund ihres Erscheinungsbildes Gesundheitskompetenz und Disziplin abzuerkennen oder ad hoc eine Essstörung zu attestieren, ist problematisch, zumal bei Nierenleiden, Morbus Cushing oder Hypothyreose ein hohes Körpergewicht nicht die Ursache für, sondern das Resultat einer Erkrankung ist. In weiterer Folge wäre es wichtig, die Curricula der Medizinstudien so zu erweitern, dass Sensibilisierung im Umgang mit verschiedenen Patient_innengruppen stärker in den Fokus rückt.
Sollten diese drei Faktoren zusammenspielen, dürften wir einer faireren, solidarischeren und ja, auch gesünderen Gesellschaft entgegenblicken. Wenn sich durch die eine oder andere Maßnahme langfristig auch noch Kosten im Gesundheitssystem reduzieren ließen, wäre dies umso besser.
Anita Drexler engagiert sich seit 2011 für Körpervielfalt. Sie lebt und arbeitet in Wien.
1 Kommentar zu „Diagnose: dick“
Ich persönlich denke, dass das angesprochene Problem noch weitaus vielschichtiger ist, als aus dem Artikel – der natürlich nur einen begrenzten Bereich abdecken kann – hervorgeht:
Die Berufe der Mediziner_in und beispielsweise auch der Lehrer_in benötigen ein hohes Maß an Empathie und psychologischer Vorsicht. Auch wenn in den Studiengängen teilweise darauf hingearbeitet wird, ist schlussendlich nicht jeder Mensch für diese Aufgabe charakterlich und mental gleich gut geeignet.
Die Grundproblematik der Fehldiagnose durch zu wenig Untersuchungszeit, Voreingenommenheit durch äußere Erscheinung, Alter oder sonstiges Gesundheitsbild zieht sich durch alle Patient_innengruppen in nahezu gleichem Maße. Problematisch wird dies jedoch erst, wenn diese Fehldiagnosen mit einem permanenten Unwohlsein der Patient_innen kombiniert werden. Der oben geschriebene Abschnitt beschreibt dieses Phänomen sehr schön:
“Die Kehrseite der Medaille ist jedoch: Dicke und fette Menschen gehen aufgrund ihrer Erfahrungen im Behandlungszimmer, die oft von Abwertung geprägt sind, weniger häufig zu Vorsorgeuntersuchungen, wodurch Diagnosen oft stark verspätet erfolgen.”
Die Medaille hat in diesem Fall allerdings noch einen Rand und auch dieser sollte angesprochen werden. Der Übergang von beiden Seiten der Medaille ist nämlich wunderbar fließend und in der Realität unschärfer als man zunächst annehmen möchte. Es klingt im Artikel teilweise an, ich möchte es hier jedoch etwas deutlicher hervorheben:
“Übergewicht gilt als Risikofaktor für viele Krankheiten, das soll den Patient_innen vermittelt werden.”
Übergewicht gilt nicht nur als Risikofaktor, es ist neben Stress der Hauptrisikofaktor vieler heutigen Zivilisationskrankheiten, die nicht über einen spezifischen Erreger ausgelöst werden. Wer deultich mehr Fetttzellen besitzt, hat es im Leben buchstäblich (körperlich wie mental) schwerer. Das dies von einer Zucker-strotzenden Industrie gewollt ist, brauchen wir nicht von der Hand zu weisen, es führt jedoch medizinisch zu einer Unschönen Thematik:
Bei der überwiegenden Mehrheit der Patient_innen ist genau dieses Übergewicht die Hauptursache ihrer Beschwerden. Alle anderen Diagnosen von Menschen in einer ähnlichen Situation – aber mit speziellen Krankheitsbildern – werden so auf Dauer verzerrt.
Ist das von Seiten der Mediziner richtig? Selbstverständlich nicht. Natürlich entbindet den Arzt das Gewicht der Patient_in nicht von einer korrekten Diagnose, allerdings wird man von einer Ärzt_in nicht erwarten können, dass sie einem Menschen mit 150kg Körpermasse nicht auf desen Lebensweise anspricht:
Die Frage ist vielmehr, wie läuft ein solches Gespräch ab und wie gehen beide Seiten miteinander um. Aus meiner Sicht muss der Weg hin zu positiver Aufklärung, weg von Shaming und Vorwürfen.
Ein übergewichtiger Mensch weiß, dass er ungesund lebt, aber es gibt immer mehrer Möglichkeiten dies zu vermitteln. Insbesondere in den USA und den westeuropäischen Ländern wird dieses Thema in der Zukunft aktueller werden als wir wollen. Schätzungen der WHO gehen davon aus, das bald jede 2. Amerikaner_in und bald 2/3 der Bevölkerung an Diabetis Typ 2 leiden werden. Als dirkete Folge eine vollkommen ungesunden Lebensmittelindustrie, die mit Zucker, Fett und Geschmacksverstärkern fast süchtige Menschen bedienen möchte.
Ich erwarte mir von Patient_innen und Mediziner_innen ein gemeinsames miteinander, um Schranken, besonders auf dem Gebiet des Übergewichtes zu überwinden und in einen klaren Dialog zu treten. Tagungen in Krankenhäusern oder zwischen Fachärzten, bei den Patient_innen eingeladen werden oder ganz selbstverständlich mit in einem Gremium sitzen und von ihren Erfahrungen berichten. Vertrauenspersonen beim Arzt, denen man schildern kann, was einem wiederfahren ist und inwiefern die Behandlung nicht so abgelaufen ist, wie sie sollte und ja natürlich gerne auch staatlich finazierte Aufklärungsarbeit (Schulungen, Tagungen, vielleicht ein Fach im Studium?).
Schlussendlich hilft es uns allen nur weiter wenn wir voneinander lernen und miteinander sprechen und dabei ehrlich mit unserem Gegenüber umgehen: Was bewegt mich? inwiefern fühle ich mich unwohl?
Nur so kommt auf Dauer Akzeptanz statt Ignoranz und Flucht zustande. Diese Akzeptanz gilt aber meines Erachtens nicht nur für die Mediziner_in, sondern auch für ihre Patient_innen und zwar genau dann, wenn die Diagnose: “Übergewicht ist die Ursache” lautet.
Beide Seiten müssen sich in Selbst- und Fremdreflexion fragen ob sie sich gegenüber sich selbst und dem anderen korrekt und respektvoll verhalten.