Rechte hetzen gegen Flüchtlinge, indem sie ihnen Vergewaltigung und Kindesmissbrauch unterstellen. Doch sexualisierte Gewalt erfahren Kinder und Frauen meist in der Familie. Auch die rechtsextreme Szene selbst ist alles andere als ein Schutzraum, sagt die Rechtsextremismusforscherin ESTHER LEHNERT im Interview mit KATHARINA LUDWIG.
an.schläge: Wenn irgendwo eine neue Flüchtlingsunterkunft öffnet, heißt es immer wieder, Geflüchtete könnten Kinder missbrauchen oder Frauen vergewaltigen. Woher kommt diese Angst?
Esther Lehnert: Sexualisierte Gewalt ist eine totgeschwiegene Struktur unserer Gesellschaft. Es ist eine Tatsache, dass nach wie vor sehr viele Kinder sexuell missbraucht werden. Wir behandeln das gesellschaftlich aber nur als Ausnahme, in einzelnen Skandalen. Über sexualisierte Gewalt in der Familie wird nach wie vor sehr selten gesprochen. Eine Konsequenz daraus ist, dass diese Gewalt nach außen projiziert wird: Der Schwarze, fremde oder migrantische Mann wird als viel gefährlicher wahrgenommen als der „normale“ deutsche Familienvater. Obwohl die Zahlen zeigen, dass der gefährlichste Ort für Kinder und Jugendliche nach wie vor die eigene Familie ist. Doch je unüberschaubarer so eine Sammelunterkunft für Geflüchtete erscheint, desto wahrscheinlicher ist, dass alle Ängste hineinprojiziert werden können.
Was genau passiert bei diesen Projektionen?
Im Rechtsextremismus gibt es das Konzept der „reinen Volksgemeinschaft“. Aber auch in der „normalen“ Gesellschaft ist der Mythos der „heilen Familie“ sehr wirkmächtig. Wenn es also entweder in der „Volksgemeinschaft“ oder in der Familie Irritationen und Bedrohungen gibt, wird zum einen das „Unreine“ und „Bedrohliche“ auf den „Fremden“ projiziert – und damit weg aus der eigenen Gemeinschaft. Zweitens wird dadurch der „andere“ Mann abgewertet. Durch den Bezug auf dessen vermeintliche Sexualität und Körperlichkeit wird der „bedrohliche“ Mann verstärkt in eine vermeintliche Naturnähe gerückt, Vernunft und Rationalität werden ihm abgesprochen.
Schwelt das unterschwellig oder wird das aktiv geschürt?
Beides. Wir müssen unterscheiden zwischen tatsächlichen Sorgen und Ängsten, denen man auf einer bestimmten Ebene durch vernünftige Aufklärungsarbeit begegnen kann. Und dann gibt es gezielte Kampagnen von Rechtsextremen, die sich als „besorgte Mütter“ oder „besorgte Eltern“ inszenieren, aber ein strategisches Interesse haben.
Was für ein Interesse?
Schauen Sie sich die Kampagnen an, die die NPD in Berlin und weiteren Bundesländern gegen Sexualstraftäter geführt hat, die nach ihrer Haftstrafe entlassen wurden. Hier geht es nicht darum, Kinder zu schützen, sondern über dieses Thema – das in der Gesellschaft für sehr, sehr große Ängste sorgt – rechtsextremes Gedankengut zu normalisieren und in die Mitte der Gesellschaft zu tragen.
Woher wissen Sie, dass es nicht um den Schutz der Kinder geht?
Nehmen wir das 450-Einwohner-Dorf Insel in Sachsen-Anhalt. 2011 ist das ganze Dorf Sturm gelaufen, als zwei Männer nach einer verbüßten Haftstrafe wegen Sexualstraftaten dort hinzogen. Unterstützt wurden die Proteste von Neonazis. Auch einzelne DorfbewohnerInnen, die sich mit den Entlassenen solidarisierten, wurden bedroht. Im selben Dorf gab es sechs Jahre zuvor einen realen Fall von Vergewaltigung an einer damals noch Minderjährigen. Der Täter war aus dem Dorf selbst, aus der eigenen Mitte. Dem Opfer wurde nicht geglaubt, die Tat wurde totgeschwiegen.
Wird in Kitas und Schulen nicht genügend über Missbrauch aufgeklärt?
Die Fälle am Canisius-Kolleg und der Odenwaldschule haben sensibilisiert, Kinder- und Jugendeinrichtungen müssen nun Schutzkonzepte entwickeln. Das dauert aber. Es hängt nach wie vor stark von einzelnen Fachkräften und der Zusammensetzung der Elternschaft ab. Herrscht dort unreflektierter Alltagsrassismus, dann greifen die politischen Strategien von Rechtsextremen besser, die Ängste instrumentalisieren wollen. Es ist ein großer Schritt, bei einer Fachstelle anzurufen und sich beraten zu lassen. Einfacher ist es, mit der Erzieherin zu reden, wenn ich mein Kind abhole. Es ist wichtig, pädagogische Fachkräfte hier zu unterstützen und zu qualifizieren.
Sie sagen, rechtsextreme Frauen haben teilweise selbst sexuelle Gewalt erlebt.
Es gibt nie nur einen Grund, warum sich Frauen hin zum Rechtsextremismus orientieren. Sehr häufi g ist Rassismus ein wichtiges Motiv. Bei der Auseinandersetzung mit Mädchen und Frauen aus der Szene gibt es viele Hinweise auf erlebte sexualisierte Gewalt. Die Idee einer „reinen, deutschen Volksgemeinschaft“ wird dann als Schutzraum imaginiert. Die Realität innerhalb der Szene sieht aber anders aus.
Was ist über Gewalt innerhalb der Szene bekannt?
Gewalt ist der Szene immanent, Gewaltfreiheit und Rechtsextremismus gibt es nicht. Aussteigerinnen berichten von häuslicher und sexualisierter Gewalt. Die Polizei findet bei Hausdurchsuchungen immer wieder Hinweise auf Kinderpornografie, auch im Fall des NSU war das so. Das verwundert nicht: Die Idee, dass es eine heile Familie gibt, wenn ich selbst in gewaltförmigen Strukturen lebe und eine gewalttätige Ideologie teile, ist geradezu absurd. Ich gebe ja meine Gewalt nicht in dem Moment ab, wo ich das Kinderzimmer oder das Elternschlafzimmer betrete.
Wird darüber gesprochen?
Nein, häusliche und sexualisierte Gewalt in der Familie oder Partnerschaft ist ein Tabu. Innerhalb der Subkulturen und auch im Rechtsrock gibt es allerdings Aufrufe zur Vergewaltigung. Vor zwei Jahren hat eine NPD-Funktionärin auf Facebook erstmalig ihr Martyrium extremer häuslicher Gewalt öffentlich gemacht. Vorher galt das als eine rechtsextreme Musterfamilie. Die Frau hat sich dann getrennt – und ist mit einem anderen Nazi zusammengekommen.
Welche Idee von „Männlichkeit“ gibt es im Rechtsextremismus?
Für rechtsextreme Funktionäre ist es wichtig, sich als potent, als mehrfachen Vater darzustellen und sich in heteronormativen Familien zu verorten. Einem rechtsextremen Funktionär zu unterstellen, er sei schwul, ist nach wie vor eine Möglichkeit, ihn politisch kaltzustellen. Die Orientierung an dem Bild des „politischen Soldaten“ herrscht vor, dazu passt es, Frau und Kinder zu schützen. Doch wir wissen: Gerade im Krieg wird vergewaltigt. Und wir wissen auch, dass im Nationalsozialismus sexuelle Gewalt eine große Rolle gespielt hat.
Inwiefern?
Sexuelle Gewalt war ein ganz normales Mittel, um Menschen zu demütigen und zu disziplinieren. Das zeigt sich in ganz unterschiedlichen Zwangs- und Strafmaßnahmen gegenüber Menschen, die nicht in die „deutsche Volksgemeinschaft“ gepasst haben. Auch in der Hitlerjugend wurde sexuelle Gewalt ausgeübt gegen Menschen, die nicht ins Bild passten. Das war ein Machtmittel.
Wie kann man Kinder vor Missbrauch schützen?
Es gibt keine Patentlösung. Wichtig ist es, Kinder stark zu machen. Wichtig ist auch, Kinder ernst zu nehmen, sie in ihren Rechten zu unterstützen und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie uns als Erwachsenen vertrauen können. Dann haben wir eventuell die Chance, dass sich Kinder im Fall von Übergriffen an uns wenden.
Beratungsangebote
Fachstelle Gender und Rechtsextremismus, www.gender-und-rechtsextremismus.de/, Tel.: +49(0)30-240886-12
Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus, www.mbr-berlin.de, Tel.: +49(0)30-24045430
Esther Lehnert ist Professorin für Geschichte, Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit mit dem Fokus auf Rechtsextremismus an der Alice Salomon Hochschule in Berlin. Sie arbeitet außerdem beratend für die Fachstelle Gender und Rechtsextremismus der Amadeu Antonio Stiftung.
Katharina Ludwig ist Journalistin und Autorin. Sie arbeitet in Berlin zu sozialen Themen.
1 Kommentar zu „Der gefährlichste Ort“
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