Was können Unternehmen tun, um Übergriffe im Arbeitsalltag zu verhindern? Bekenntnisse reichen nicht aus, weiß Ursula Kussyk, Geschäftsleiterin der Frauenberatungsstelle Notruf bei sexueller Gewalt. Ein Gespräch über #MeToo und Monster, die keine sind. Von Kathrin Reisinger
an.schläge: Was ist überhaupt ein Übergriff und wer bestimmt, ob es einer ist?
Ursula Kussyk: Ganz eindeutig die betroffene Person, die betroffene Frau, das betroffene Mädchen. Das Gesetz hat eine ganz enge Definition, die festlegt, was ein Übergriff ist – und das ist für die Betroffene oft eine Enttäuschung. Gesetze im Strafrecht beschreiben spezifische Handlungen und legen bestimmte Umstände fest. Nur in diesem Rahmen sind Handlungen strafbar, verbale und nonverbale Belästigungen sexualisierter Art ohne Körperkontakt lassen sich nach § 218 jedoch nicht strafrechtlich verfolgen. Sehr wohl kann man aber arbeitsrechtlich gegen solche Belästigungen vorgehen. Oft stellt sich jedoch heraus, dass es nichts bringen wird, eine Anzeige zu machen, weil das keine Straftat ist. Eine Anzeige ist nur dann sinnvoll, wenn es wirklich der Wunsch und das Bedürfnis ist, mit dem Erlebten umzugehen, ohne die Erwartung zu haben, dass der Täter verurteilt wird. In den meisten Fällen wird das Verfahren nämlich eingestellt.
In der #MeToo-Debatte sind speziell Übergriffe im Arbeitsleben ins Licht gerückt. Was macht eigentlich ein sicheres Arbeitsumfeld aus?
Das Unternehmen muss aktiv eine antisexistische Haltung einnehmen, die sich klar gegen Gewalt an Frauen positioniert. Diese muss auf allen Ebenen in die Unternehmenskultur implementiert werden.
Und wie kann das konkret in der Praxis aussehen?
Nichts zu tun, ist am schlechtesten. Es braucht ein Konzept und wirklich den Willen etwas zu verändern. Es kann nicht alles immer sofort super laufen. Das sind Prozesse, die dauern. Wichtig ist aber, wirklich offen zu sein und darüber zu sprechen. Es braucht ein Klima, in dem die Mitarbeiter*innen keine Angst haben müssen, Dinge anzusprechen. In dem man auch Fehler besprechen kann und Lob eine Selbstverständlichkeit ist. Wo gemeinsam erarbeitet wird, wie ein wertschätzender Umgang aussehen kann. Das gehört für mich alles zusammen.
Braucht es auch innerhalb von Betrieben eine Definition, was Übergriffe bzw. unerwünschtes Verhalten ausmachen?
Ja, es ist wichtig, unterschiedliche Szenarien zu besprechen, weil es nicht immer einen physischen Übergriff gibt. Es muss gemeinsam überlegt werden: Wie stehen wir dazu? Wo fängt eine Grenzüberschreitung an? Was ist demütigend und herabwürdigend?
Ich finde, es ist wichtig zu kommunizieren, dass alle davon profitieren. Nur zu sagen ‚Wir schützen die Frauen‘ ist zu wenig! Man muss den Männern klarmachen bzw. sollten das feministische Männer anderen Männern klarmachen, dass ein antisexistisches Klima besonders auch für sie von Vorteil ist. Alle würden wir davon profitieren. Es ist übrigens für Männer auch nicht immer von Vorteil, sich an patriarchalen Mustern zu orientieren.
Wenn ich in meinem Arbeitsumfeld beobachte, dass Übergriffe passieren, wie verhalte ich mich dann am besten?
Man muss es ernst nehmen, es darf nicht verschwiegen werden. Was dann konkret passiert, das müssen sich alle Einrichtungen selbst überlegen. Aus ihrer Kultur, aus ihrer Geschichte und aus ihrer Struktur heraus. Wichtig ist, dass niemand damit alleine bleibt und dass es auf jeden Fall Ansprechpartner*innen dafür gibt. Wenn es das nicht gibt, sollte man sich an eine externe Beratungsstelle wenden. Dort kann ich dann besprechen, was passiert ist, wie es mir geht und was ich möchte. Alleine damit zu bleiben ist immer furchtbar, sowohl als Zeugin als auch als Betroffene.
Woran liegt es, dass Betroffene sich nicht melden?
Das liegt oft am Arbeitsklima. Wenn ich das Gefühl habe, es hat keinen Sinn, einen Übergriff zu melden, oder es könnte sogar Nachteile für mich haben, dann werde ich mir gut überlegen, ob ich mich jemandem anvertraue. Im Unternehmen muss deshalb von vorneherein völlig klar sein: An wen wende ich mich? Wer wird informiert? Inwieweit kann ich mich anonym beraten lassen und mir dann überlegen, ob ich das öffentlich mache? Ist das möglich oder nicht, auch arbeitsrechtlich? Was sind meine Optionen?
Wenn ein Übergriff gemeldet wurde: Welche Informationen sollen dann innerhalb einer Gruppe weitergegeben werden?
Das Wichtigste ist: Ohne das Einverständnis der Betroffenen passiert nichts. Solche Erlebnisse lösen ein Gefühl der Hilflosigkeit aus und entziehen dir die Kontrolle. Um damit weiterleben und das verarbeiten zu können, ist es ganz wichtig, so viel Kontrolle wie möglich wiederzuerlangen.
Man kann der Betroffenen nur Unterstützung anbieten und da sollten sehr klare Grenzen gewahrt werden. Man darf auch nichts versprechen, das man nicht halten kann.
Die Betroffene muss dann selbst entscheiden, ob sie die Angebote annehmen will oder nicht. Vielleicht ist der Zeitpunkt nicht der richtige, vielleicht will sie das erst später. Aber auf jeden Fall hat sie das Recht zu sagen: Nein, ich will das nicht.
Gibt es Best-Practice-Beispiele? Betriebe, denen es sehr gut gelingt, mit Übergriffen umzugehen?
Sehr gut hat das Unternehmen dann reagiert, wenn genau das passiert, was wir vorher besprochen haben. Ich darf keine Namen nennen, aber es kommt durchaus vor, dass rasch reagiert und eine Lösung angeboten wird. Eine Versetzung beispielsweise, wenn das für alle okay ist. Täter wurden entlassen, auch das passiert.
Wie begegnet man Menschen, die sagen: „Von dem kann ich mir das aber nicht vorstellen”?
Es kann durchaus sein, dass ein Täter in anderen Kontexten anders wahrgenommen wird. Selbst in Fällen, wo wirklich jemand Frauen jahrelang vergewaltigt oder Mädchen sexuell missbraucht hat, hat man es nicht mit Monstern zu tun. Man erkennt auch nicht immer leicht, dass jemand gewalttätig ist.
Menschen können sehr böse Dinge tun und gleichzeitig nett, intelligent und charmant sein.
Viele fragen sich trotzdem: Warum habe ich das nicht erkannt?
Es kann sein, dass man es nicht erkennen konnte. Es kommt auch darauf an, in welchem Kontext ich mit der Person zu tun habe. Wenn ich jemanden als lustigen und netten Sportkollegen kenne, dann stehe ich nicht in derselben Abhängigkeit zu ihm wie beispielsweise seine Familie.
Es kommt auch darauf an, wo ich mich in der Hierarchie befinde?
Ja, oft wissen die Täter genau, wo sie sich etwas erlauben können und wo nicht. Auch Bullys etwa, die sich männliche Opfer aussuchen, wissen genau, wen sie attackieren und wen besser nicht. Es ist ja nicht so, dass sie diese Gewalttätigkeit einfach überkommt. Auch diese Menschen – so wie wir alle – entwickeln gewisse Strategien, um Dinge, die sie nicht preisgeben wollen, zu verdecken und zu verheimlichen.
Leistet die #MeToo-Debatte einen Beitrag dazu, das gesellschaftliche Klima zu verändern?
Ja natürlich! Sie hat natürlich Schattenseiten, aber es zum Thema machen, darüber reden, ist nie verkehrt. Wenn etwas verschwiegen wird, dann passiert überhaupt nichts.
Und die Schattenseiten?
Es gibt einen Backlash. Viele Frauen hatten das Gefühl: Jetzt kann ich endlich sagen, was mir widerfahren ist. Das waren natürlich sehr unterschiedliche Geschichten. Von „Er hat mir die Hand auf den Oberschenkel gelegt“ bis zur Vergewaltigung. Dann wurde behauptet, es würde alles gleichgesetzt, aber das stimmt natürlich nicht. Um mit etwas Positivem abzuschließen: Es hat sich in den letzten Jahrzehnten auf jeden Fall verändert, dass junge Frauen etwas als Übergriff identifizieren können. Da bin ich sehr froh und heimlich stolz, wenn Frauen in die Beratung kommen und ganz klar sagen: „Das ist mir passiert, das ist nicht okay und das ist ein Übergriff für mich.“
Was sich auch positiv verändert hat, sind die Reaktionen von Partner*innen und Freund*innen auf Erzählungen von sexuellen Übergriffen. •
Die Frauen*beratung Notruf bei sexueller Gewalt ist Anlaufstelle für Betroffene von sexueller Gewalt. An die Beratungsstelle können sich alle Frauen und Mädchen sowie Personen, die sich als Frauen/Mädchen identifizieren bzw. als solche sozialisiert wurden, wenden. Das Angebot umfasst neben der Anzeigen- und Prozessberatung auch psychosoziale Beratung, Sozialservice und begleitete Weitervermittlung. Zudem informieren die Beraterinnen zu den therapeutischen Möglichkeiten und beraten in den Sprachen Deutsch, Englisch, Bosanski/Hrvatski/Srpski. Die Beratung ist anonym und kostenlos.
www.frauenberatung.at