Belebendes, Hoffnungsvolles, Verhextes und Gruseliges hat CHRISTINA MOHR zusammengetragen.
Lange angekündigt, jetzt endlich da: das Album von Wild Flag (Wichita/Cooperative), der Post-Riot Grrrl-Allstarband von Mary Timony (Helium), Carrie Brownstein (Sleater-Kinney), Rebecca Cole (The Minders) und Janet Weiss (Sleater-Kinney, Quasi). Und es tut so gut, sie zu hören: „Romance“, „Electric Band“ und die Single „Future Crimes“ verbinden Punkrock, Grunge und Garage mit Girlgroup-Gesang – super! Wild Flag beschränken sich keineswegs auf leicht verdauliche Dreiminüter: Songs wie „Glass Tambourine“ oder „Endless Talk“ zerren an den Nerven und treten in den Hintern; Carrie Brownsteins Stimme galt stets als „anstrengend“, und, yeah, das ist sie immer noch! Dass Brownstein überdies vom „Rolling Stone“ als einzige Frau zu den „25 unterschätztesten Gitarristen“ gezählt wird, ist zwar eine zweifelhafte Auszeichnung, aber bei Wild Flag zeigen sie und Mary Timony, wie man tonnenschwere Riffs elegant und ohne Mackergehabe spielt. Wild Flag beleben Riot Grrrlsm neu – keine Frage des Alters, sondern der attitude.
Alle paar Wochen wird eine andere junge Sängerin als neue Soul-Hoffnung angepriesen – aber Soul ist mehr als mit dickem Eyeliner garnierter Retro-Schubidu. Soul kommt von tief drinnen, ist ein Gefühl, süß und schwer. Die nigerianisch-deutsche Songwriterin Nneka nennt ihr neues Album Soul Is Heavy (Four Music/Sony), und es hat kaum etwas mit angesagtem Neo-Soul gemein. Seit dem Hit „Heartbeat“ gilt Nneka als ernstzunehmende Schwester Lauryn Hills und Erykah Badus; „Soul Is Heavy“ zeigt, dass diese Vorschusslorbeeren verdient sind. Unterstützt von Ms Dynamite und Rapper Black Thought von The Roots zelebriert Nneka ihr eigenes Soul-Update. Sie mixt HipHop, Motown-Soul, afrikanische Beats und Reggae, in den Texten verhandelt sie die ewig gültigen Themen Liebe, Schmerz, Krieg, Gott und Tod. Über allem schwebt Hoffnung, besonders schön in „Shining Star“.
Wer No Wave-Ikone Lydia Lunch als zornige Spoken Word-Performerin kennt und einem Gig ihrer Band Big Sexy Noise beiwohnt, wird überrascht sein, wie viel Spaß sie auf der Bühne hat – jawohl Spaß, der so weit geht, dass La Lunch nach dem Konzert Bandlogo-Slips signiert. Lunchs Indie-Supergroup – Terry Edwards (PJ Harvey), Ian White und James Johnston (Gallon Drunk) – fabriziert grollenden, tiefschwarzen Blues-Punkrock-Lärm, der in die Magengrube fährt. Weil Lunch keine halben Sachen macht, klingen Big Sexy Noise auf ihrem zweiten Album Trust the Witch (Indie Europe/Zoom) ein bisschen overdone, zumindest, was den Gesang angeht. Bei „Ballin’ the Jack“ und „Mahakali Calling“ presst Lunch das Hardrockmonster aus sich heraus, röhrt und faucht wie eine Doro Pesch from hell. Was ihr mehr liegt und der Musik besser tut, ist kaputt-laszives, unheilschwangeres Leiern wie bei „Not Your Fault“ und das Rap-Stakkato von „Where You Gonna Run“. Selbstverständlich lässt Lunch es sich nicht nehmen, mit ihrer Hexenhaftigkeit zu kokettieren (Trust the Witch!) und singt von Tod und Teufel – Mummenschanz, aber tolle Musik: Big Sexy Noise eben.
Die Multiinstrumentalistin und Opernsängerin Yvonne Cornelius alias Niobe nahm für ihren Künstlerinnennamen eine Figur der griechischen Mythologie zum Vorbild, der schreckliche Dinge widerfuhren, die sie durch ihren Hochmut provoziert hatte. Niobes neues Album The Cclose Calll (Tomlab) beschäftigt sich damit, wie es wäre, wenn alles schlimm enden würde: Wenn der Stalker plötzlich im Zimmer stünde. Wenn der Erfolg als Künstlerin ausbliebe und sie ihr Dasein als Hotelbarsängerin fristen müsste. Wenn der Autopilot versagte. Die Musik zu diesen Schreckensvisionen ist von eigentümlicher Schönheit: Niobe baut die Stücke wie Hörspiele auf, schichtet Spur auf Spur, illustriert sie mit gruseligem Telefonklingeln wie in „Stop! You Send For Me“ und singt mit verfremdeter Stimme. Auf ihrem letzten Album dekonst-ruierte sie Swing und Jazz, „The Cclose Calll“ widmet sich der düsteren Seite des Rock’n’Roll: Niobes musikalischer Partner St. Lindemer spielt verhallte Bass- und Gitarrenparts und sorgt bei „Does He Gallop O Walk“ oder dem an Suicide erinnernden „Stuck To The Fact“ für Horrorfilmambiente. Melodien bleiben Fragmente, Ahnungen, die geisterhaft zur Tür hinauswehen, und sich doch festhaken.
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