Wir müssen nicht nur gegen die beschlossene Arbeitszeiterhöhung, sondern weiter für eine Verringerung kämpfen. Von SANDRA STERN
Die Industriellenvereinigung in Österreich feiert. Schließlich fordert sie schon seit vielen Jahren gebetsmühlenartig eine „Arbeitszeitflexibilisierung“ und lanciert dafür regelmäßig kostspielige Kampagnen. Seit den 1990er-Jahren schreitet daher auch die Fragmentierung der Arbeitszeitregulierungen weiter voran – teilweise mit Zustimmung der immer stärker in die Defensive geratenen Gewerkschaften. Mit der neuen schwarz-blauen Regierung hat die Wirtschaft nun eine verlässliche Partnerin für den Abbau von Arbeits- und Sozialrechten im großen Stil – auch in puncto Arbeitszeit. Am 1. September ist das neue Arbeitszeitgesetz in Kraft getreten: Hundert Jahre nach Einführung des Acht-Stunden-Tages wird damit die maximale tägliche Arbeitszeit auf zwölf Stunden und die maximale wöchentliche Arbeitszeit auf sechzig Stunden erhöht. Zukünftig können Zuschläge wegfallen und mit einer Betriebsvereinbarung können Unternehmer*innen Beschäftigte an vier Sonntagen im Jahr zur Arbeit verpflichten.
Die Empörung über die aktuellen arbeits- und sozialrechtlichen Rückschritte ist groß. Aus feministischer Sicht gibt es jedoch mindestens zwei Aspekte, die dabei häufig unter den Tisch fallen.
Zum einen ist das aktuelle Gesetz nicht nur ein massiver Angriff auf alle Beschäftigten, es birgt auch immenses Spaltungspotenzial. So werden die mächtigeren, weil gewerkschaftlich gut organisierten Branchen wie die Metallindustrie in den bevorstehenden Kollektivvertragsverhandlungen weitere Angriffe der Arbeitgeber*innen möglicherweise abwehren können. Den Beschäftigten in schlecht organisierten Branchen wie dem Handel, dem Sozial- und Gesundheitsbereich oder dem Gewerbe wird dies wesentlich schwererfallen. Doch es sind genau diese Branchen, in denen überwiegend Frauen und Migrant*innen arbeiten. Entgrenzte Arbeitszeiten sind dort längst Realität.
Zum anderen droht in Abwehrkämpfen wie jenem gegen den Zwölf-Stunden-Tag bzw. die Sechzig-Stunden-Woche die wichtige Forderung nach einer drastischen Verkürzung der Arbeitszeit wieder ins Hintertreffen zu geraten. Doch gerade die Verringerung jener Zeit, die wir mit Lohnarbeit zubringen (müssen), stellt einen zentralen Ansatzpunkt für gesellschaftliche Emanzipation dar. Verkürzen wir die Arbeitszeit, bleibt schlicht mehr Zeit für alles andere. Zeit, um sich zu erholen, sich gesellschaftlich einzubringen und sich zu kümmern – um die Kinder, die Pflegebedürftigen, die eigenen Beziehungen, das Gemeinwohl und letztlich auch um sich selbst. Und dass (unbezahlte) Care- und Sorgearbeit meist an Frauen hängt, ist mittlerweile den allermeisten klar.
Aus Sicht der Wirtschaft und ihrer Lobbyist*innen ist der Zwölf-Stunden-Tag ein weiterer Etappensieg. Aber auf ihrer Agenda steht weitaus mehr. Nicht nur der politische Einfluss der Sozialpartner, vor allem jener der Beschäftigtenseite soll zurückgedrängt werden. Der schwarz-blauen Regierung geht es um nichts Geringeres, als die mühsam erkämpften Mitbestimmungsrechte von uns allen zu zerstören.
Feminist*innen beschäftigen sich schon lange mit der Zeitfrage. Nicht zuletzt angesichts massiv steigender Burnout-Raten ist klar: Ein Zurück zum Acht-Stunden-Tag statt einer Forderung nach Arbeitszeitverkürzung ist einfach keine Option. Frigga Haug, Soziologin und feministische Marxistin, hat hier mit ihrer Vier-in-einem-Perspektive interessante Denkoptionen eröffnet. Pro Tag jeweils vier Stunden für Erwerbsarbeit, Sorge, Kultur und Politik, d. h. Zeit, um sich politisch einzumischen. Und gerade Letztere brauchen wir dringender denn je!
Sandra Stern war in gewerkschaftlichen Organising-Kampagnen in den USA, Deutschland und Österreich tätig und arbeitet als politische Erwachsenenbildnerin und Prozessbegleiterin. Sie ist Mitgründerin der UNDOK-Anlaufstelle und Redakteurin des linken mosaik-Blogs. Aktuell gründet sie in Wien gemeinsam mit anderen das „Bureau für Selbstorganisierung“.