Das beschauliche Leben einer Pariser Intellektuellen gerät plötzlich aus den Fugen. Die große ISABELLE HUPPERT macht in „Alles was kommt“ vor, wie ein lässiger Neuanfang gelingt. Von FIONA SARA SCHMIDT
Nathalie liebt ihren Beruf als Philosophielehrerin an einem Lycée, hat zwei erwachsene Kinder, ein schönes Heim sowie ein Ferienhaus, gibt eine Buchreihe heraus, kümmert sich um ihre dramatisch veranlagte Mutter und führt seit 25 Jahren eine stabile Ehe mit einem Universitätsprofessor. So könnte das immer weitergehen – aber es kommt natürlich ganz anders.
Bürgerlicher Alltag. Zu viel wurde in der deutschen Presse von den alltäglichen Katastrophen, die Nathalies Leben um 180 Grad drehen, schon verraten. Denn bis die alle geschehen sind, dauert es fast die Hälfe des Films – direkt mit dem großen Knall einzusteigen, ist nicht der Stil der Regisseurin und Autorin Mia Hansen-Løve. Die 1981 geborene Französin beschreibt zunächst lieber aufmerksam den Alltag der Lehrerin. Diese liebt ihren Beruf und brennt für die Philosophie, Bücher sind in ihrer Wohnung und für ihre Identität zentrales Element. Mit ihren Schüler_innen diskutiert Nathalie leidenschaftlich, auch wenn ihr die politischen Ansichten der Teenager nicht immer nachvollziehbar erscheinen, mit den alarmistischen Anrufen ihrer depressiven Mutter (Edith Scob) hat sie sich arrangiert. Doch der Umstand, dass ihre Schulbuchreihe modernisiert und flippiger gestaltet werden soll, bringt die selbstbewusste Autorin erstmals etwas aus der Fassung.
Klassenfrage. Die Trennung vom Ehemann und andere Schicksalsschläge erfolgen trotz aller persönlichen Verluste aus relativ geringer Fallhöhe: Hier streitet man sich um die Schopenhauer-Ausgabe, nicht um Haus oder Auto. Daran, dass Nathalie einen wunderschönen, teuren Blumenstrauß wegwirft, anstatt ihn ihrer kranken Mutter mitzubringen, ist die Bourgeoisie zu erkennen. Nathalie war während ihres Studiums drei Jahre lang Kommunistin. Trotzdem will sie einfach den Unterricht fortsetzen, als ihre Schüler_innen streiken und eine kurze Diskussion darüber anfangen, was man auf dem Gymnasium schon von Arbeiter_innenrechten wisse. Sie will nichts davon wissen, dass die jungen Leute für ihre Eltern und deren Pension auf die Straße gehen. Die Geschichte ist etwa 2007/2008 angesiedelt, Sarkozy ist Präsident und das Erscheinen eines linken Essays wird von Nathalies Lieblingsschüler (Roman Kolinka) in seiner Kommune mit vorbereitet, die auch Nathalie mehrfach besucht. Es könnte sich dabei um „Der kommende Aufstand“ des „Unsichtbaren Komitees“ handeln, das zu dieser Zeit für viel Aufsehen sorgte. Ihr Zögling wirft Nathalie trotz all seiner Bewunderung für sie vor, ihre Ideale verraten zu haben. Der Film spiegelt Nathalies politische Angepasstheit – die Unruhen der Banlieues von 2005 sind kein Thema und das Paris des Films wirkt sogar idyllisch. Die Natur und der Lauf der Jahreszeiten spielen eine zentrale Rolle. Die Erkenntnis, dass die Erde sich weiterdreht, hilft Nathalie, nicht im Selbstmitleid zu versinken. Rationale Distanz und Schwere, trotzige Freiheit und tiefe Traurigkeit: Eine Paraderolle für Isabelle Huppert, die einfach nur auf einem Berg stehen muss, um all das auszudrücken.
Hommage. Es ist ein Verdienst der 68erinnen, dass eine Scheidung kein Drama mehr ist, und Nathalie sieht auch keinen rationalen Sinn in dramatischen Gesten. Die Philosophie gibt ihr Halt, genau wie die schwarze Katze Pandora. Der Film ist auch eine Würdigung von Hansen-Løves geschiedenen Eltern, die ebenfalls Philosophie lehrten, Milieu und Stimmung sind daher glaubwürdig ausbuchstabiert. Die Regisseurin lässt aber durchaus Raum für selbstironische Momente und Absurditäten des Alterns und führt ihre Protagonistin mit Gespür für Rhythmus und Musikalität durch ihren fünften Film. Auf die Elterngeneration blickt das Buch nicht unkritisch, aber verständnisvoll. Die Regie erlaubt Nathalie, sich aus manchen Szenen bewusst herauszuziehen und die Grabenkämpfe den Jungen zu überlassen. „Manchmal habe ich das Gefühl, uns Frauen ab vierzig kann man einfach auf den Müll werfen“, stellt sie trocken fest, um darauf einfach elegant zum nächsten Programmpunkt weiterzustöckeln. Eine Frau mit Haltung eben.
Alles was kommt
Regie: Mia Hansen-Løve
F/D 2016, 98 Min.
ab 4.11. in den österreichischen Kinos