Der Dokumentarfilm „Mädchenseele“ zeichnet ein einfühlsames Porträt des Trans*mädchens Nori. Von SOPHIE CHARLOTTE RIEGER
Rosa Einhörner, Schminkspiegel und Puppenhaus – das Zimmer der kleinen Nori sieht ein bisschen aus wie der wahrgewordene Albtraum von Pinkstinks. Wie so oft kollidiert auch im Dokumentarfilm „Mädchenseele“ von Anne Scheschonk ein bestimmter Trans*diskurs mit dem zeitgenössischen Queerfeminismus. Wo der eine klar unterscheidbare Geschlechter annimmt, zwischen denen sich Menschen frei entscheiden dürfen, versucht der andere eben jene Unterscheidbarkeit infrage zu stellen und zu überwinden.
„Mädchenseele“ erzählt auf den ersten Blick lediglich die Geschichte eines Trans*kindes und seiner Mutter, wirft aber zwischen den Zeilen viele spannende Fragen zum Thema Geschlechtsidentität auf. So interviewt die Filmemacherin ihre junge Protagonistin explizit zu den Unterschieden zwischen Jungen und Mädchen. Und auch die Berichte der Mutter über die ersten Anzeichen von Noris Trans*identität werfen Fragen auf: Warum ist es eigentlich so merkwürdig, wenn Jungen gerne mit Barbies spielen und sich die Haare wachsen lassen wollen? Und bringt Mädchensein wirklich unweigerlich den Traum von der Modelkarriere und dem Auftritt als Funkenmariechen mit sich?
Diese kleinen Abstecher in einen grundlegenden Diskurs über Genderidentität überlagern jedoch nie die individuelle Geschichte, die „Mädchenseele“ erzählt. Dem Film geht es ausschließlich um das Porträt eines einzelnen Kindes und nicht um Pauschalaussagen. Deshalb gibt es auch keine Statistiken oder Informationen über die Phasen einer Geschlechtsangleichung. Warum Nori die von ihr herbeigesehnte Operation beispielsweise erst mit 18 vornehmen lassen darf, bleibt eine offene Frage. Auch die rechtlichen Details des „Rollenwechsels“, wie Noris Mutter die Geschlechtsangleichung ihrer Tochter nennt, werden ausgeklammert.
Die fehlenden Hintergrundinformationen sind einerseits bedauerlich, andererseits aber Ausdruck des konsequenten Konzepts von Anne Scheschonk. Indem sie auf Statements von Mediziner_innen oder Psycholog_innen verzichtet, vermeidet sie auch eine Pathologisierung Noris, die somit die Chance bekommt, einfach nur ein Mädchen zu sein. Der Film begleitet sie in alltäglichen Situationen, in der Schule, beim Hip-Hop-Unterricht oder bei Streitigkeiten mit der Mutter, die die Zuschauenden vergessen lassen, dass Nori einst als Junge gelesen wurde.
Auch wenn medizinische und damit physische Zusammenhänge hier nur eine Nebenrolle spielen, sprechen Nori und ihre Mutter den Elefanten im Raum mutig an: Das böse „P“-Wort, Noris Penis also, ist von den beiden zur Mu-Pu umgetauft worden. Dieser Neologismus macht deutlich, dass die Schwierigkeiten, mit denen Trans*menschen konfrontiert sind, schon bei der Sprache beginnen. Wie wenig unsere europäische Gesellschaft mit diesen Problemen vertraut ist, zeigt auch die Tatsache, dass Noris Mutter sich mit US-amerikanischen Internetseiten über die Situation ihrer Tochter informieren musste, in ihrem näheren Umfeld damit aber vor allem auf Unverständnis stieß. Ohne Betroffenheitsstimmung beleuchtet Anne Scheschonk mit ihrem Film auch die Hürden, die Nori und ihre Familie nehmen müssen. Und wenn ihre Mutter von den suizidalen Phasen ihrer siebenjährigen Tochter berichtet, begreift wohl auch der_die letzte Zuschauer_in, dass es sich hier nicht um eine Kinderei, sondern um eine schwerwiegende Identitätskrise handelt.
„Mädchenseele“ hat eigentlich nur ein einziges gravierendes Problem: Der Film ist einfach viel zu kurz. Kaum haben wir Nori kennengelernt, müssen wir auch schon wieder Abschied nehmen.
Mädchenseele
Anne Scheschonk, D 2017