Die französische Punkrock-Poetin Virginie Despentes hat einen großen Roman über den Niedergang der französischen Gesellschaft geschrieben. CAROLIN HAENTJES findet ihn großartig.
Es geht steil bergab. Mit jeder_m einzelnen, mit der Gesellschaft sowieso. Was Virginie Despentes in ihrem neuen Roman beschreibt, ist ein einziges Herabrauschen. In der Hauptrolle: Vernon Subutex, vormaliger Besitzer eines legendären Plattenladens. Kein Promi, aber eine Zweite-Reihe-Instanz der Pariser Subkultur. Vernon hat sich ganz gut gehalten, äußerlich, für einen Endvierziger. Ab und an glänzt er noch mal in seiner Rolle eines heruntergerockten Ladykillers, aber das hat er auch bitter nötig. Denn Vernon Subutex ist auf dem Weg zum SDF, wie es auf Französisch heißt. Auf gut Deutsch und um in Despentes’ Sprache zu bleiben: zum Penner.
Eine Wendung, die Vernon, wie die meisten Menschen, für sein Leben nicht in Betracht gezogen hatte. Auch wenn es sich langsam anbahnte: Der Plattenladen musste schließen, weil die Digitalisierung anfing, die analogen Medien zu fressen. Die Sozialhilfe wurde ihm mangels Job-Aussichten gestrichen. Er hielt sich allein mit den Spenden seines Popstar-Freundes Alex Bleach über Wasser. Nur, dass Alex einfach sterben, der Gerichtsvollzieher an seine Tür hämmern und er mir nichts, dir nichts mit einer einzigen Tasche in der Hand auf der Straße stehen könnte – damit hatte er trotz allem nicht gerechnet. Es trifft ihn plötzlich, ein Schlag ins Gesicht, oder besser: ein deftiger Arschtritt. Vernon schlägt sich durch, wärmt alte Freundschaften auf, schlüpft bei neuen Freundinnen ins Bett. Bis er am Ende seiner Im-Notfall-fragen-Liste angekommen ist, auf dem Trottoir sitzt und die Hand ausstreckt.
Chor der Verzweifelten. Wäre Vernons Schicksal einfach nur seine Geschichte, es wäre tragisch, aber viel einfacher. Für die anderen jedenfalls. Für den Chor der Verzweifelten, die Vernons Absturz begleiten. Sie besingen ihr eigenes Leben, streifen Vernon nur zufällig. Aber sie alle schnappen in ihren Liedern verzweifelt nach Luft, versuchen noch ein Stückchen Leben zu ergattern, während sie fortgerissen werden von einer spätkapitalistischen Konsumkultur, die nur einen Gott (die Jugend) und eine Kirche (den Körper) kennt. Ex-Pornostar, Journalistin, depressive Mutter, wütender Vater, verlassener Schläger, Internet-Rufmörderin und ein von Verfolgungswahn geplagter Manager: Sie alle kommen zu Wort, mit ihren eigenen Kämpfen, ihren neurosen-zerfressenen Alltagsgeschäften. Für jede_n schlägt Despentes einen eigenen Ton an, kehrt mit ihrer direkten, einfühlsamen Sprache ihr Inneres hervor. Und zeichnet, ausgehend von der Talfahrt des Vernon Subutex, das Sittengemälde einer neoliberal-ausgeweideten Gesellschaft.
Enfant terrible. Es ist Despentes’ siebter Roman und der erste Teil einer Trilogie, deren drei Bände in Frankreich alle Bestseller wurden. Noch im Jahr 2000 wurde die Verfilmung ihres Debüts „Baise-moi“ („Fick mich“) zensiert und durfte nur in Pornokinos gezeigt werden. Nun ist Despentes mit ihrer dreibändigen Absturz-Erzählung in den französischen Literaturhimmel aufgestiegen. Man hat sie, eine ehemalige Sex-Arbeiterin und Punkrock-Feministin, das enfant terrible der Underground-Literatur, in die Académie Goncourt gewählt. In die Jury also, die den renommiertesten Literaturpreis Frankreichs verleiht. Die Vergleiche mit Balzac, die in den Kritiken gezogen wurden, naja, die werden weder ihr noch ihm gerecht. Aber sie drücken aus, wie präzise das Panorama ist, das die Autorin entwirft, das vielgesichtige Porträt einer Gesellschaft, in der jede_r für sich alleine stirbt. Außer Vernon, der verreckt einfach nicht.
Als er ganz unten ist, fiebertrunken, findet er sich wieder, hoch über der Stadt. Eine Perspektive, aus der er eine neue Klarsicht gewinnt – und die Despentes’ Selbstverständnis als Schriftstellerin Ausdruck verleiht: „Ich bin der Flüchtling, der den Stacheldraht von Melilla überwunden hat, (…) ich bin die Kuh im Schlachthof, ich bin die Krankenschwester, die von ihrer Ohnmacht angesichts der Schreie taub geworden ist, (…) ich bin der Baum mit den nackten, vom Regen misshandelten Ästen, das Kind, das in seinem Kinderwagen schreit, (…) ich bin eine schwarze Wolke, ein Springbrunnen, der verlassene Bräutigam, der die Fotos seines früheren Lebens vorbeiziehen sieht, ich bin ein Penner auf einer Bank hoch oben auf einem Hügel über Paris.“ Großartig.
Carolin Haentjes ist freie Journalistin und lebt in Berlin.
Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex
Kiepenheuer & Witsch 2017
22,70 Euro