Vergewaltigung ist nicht per se männlich und sexuelle Gewalt muss nicht zwangsläufig folgenschwerer sein als andere Gewaltformen: MITHU M. SANYAL hat eine provokante Streitschrift verfasst. Von LEA SUSEMICHEL
Leider gibt es keine adäquate deutsche Übersetzung für den englischen Begriff mind-blowing, doch genau das ist Mithu M. Sanyals neues Buch mit dem Titel „Vergewaltigung“: Es rüttelt an den Grundfesten unserer Überzeugungen. Die kulturwissenschaftliche Studie, die unter Feministinnen für sehr kontroverse Debatten sorgen dürfte, breitet die These aus, dass Vergewaltigung „das gegendertste Verbrechen überhaupt“ ist. Denn eine unserer felsenfesten Überzeugungen sei es, dass der Täter zwangsläufig männlich und das Opfer weiblich ist, eine Aufteilung, die sich der uralten und bis heute weitgehend unangefochtenen Vorstellung des triebgesteuerten Mannes und der sexuell zurückhaltenden Frau verdankt.
Der Penis wird dabei mit einer „Waffe“ gleichgesetzt, was laut Sanyal eine „erhebliche linguistische Leistung ist angesichts der Tatsache, dass männliche Genitalien keinesfalls die ganze Zeit drohend aufgerichtet stehen, sondern fragil den Gezeiten der Erektion ausgeliefert – und überhaupt empfindlicher sind als weibliche Genitalien, wenn man beispielsweise an die Hoden denkt“.
Doch die Angst vor dieser Waffe ist für Mädchen und Frauen allgegenwärtig, die elterliche Warnung vor Vergewaltigung kommt beinahe einer Initiation gleich, nach der Mädchen mit dem Gefühl ständiger Bedrohung zurückbleiben. Daran ändern auch die Statistiken nichts, wonach Männer ein 150 Prozent höheres Risiko haben, Opfer von Gewaltverbrechen zu werden (nicht-weiße Männer ein noch höheres) und Frauen statistisch gesehen zudem im öffentlichen Raum weit sicherer sind als zu Hause.
Vergewaltigungsmythen. Auch Feministinnen griffen diese Vorstellung des „Triebtäters“ auf und verlangten, Männer müssen ihre Sexbesessenheit in den Griff bekommen. Die Anti-Rape-Bewegung wurde zu einem wichtigen Motor der Zweiten Frauenbewegung und der Kampf gegen Vergewaltigung avancierte zum symbolischen Schlachtfeld gegen gewaltvolle Männermacht generell. Feministinnen traten nun vehement gegen die allgegenwärtigen Strategien der gesellschaftlichen Schuldumkehr (Victim Blaming) auf: Wenn eine Frau Nein sagt, meint sie eigentlich Ja; sie ist meist sowieso selbst schuld (etwa wegen ihrer aufreizenden Kleidung) oder lügt, um sich zu rächen; Vergewaltiger sind wilde Psychopathen, die hinter Büschen lauern, und nicht der Mann zu Hause im Ehebett und so fort.
Die Frauenbewegung erklärte alle diese Aussagen zu „Vergewaltigungsmythen“ und verkehrte sie kurzerhand in ihr Gegenteil. Hieß es vorher, fast alle Vergewaltigungsvorwürfe seien Falschanzeigen, sollten Frauen fortan uneingeschränkte Definitionsmacht haben, und alle Grau- und Grenzbereiche im Bereich sexueller Gewalt wurden negiert, denn: Nein heißt Nein!
Damit will Sanyal jedoch keinesfalls nahelegen, dass an diesen Mythen vielleicht doch etwas dran sei (obgleich sie die Möglichkeit von Falschbezichtigungen durchaus einräumt und allein damit einen feministischen Tabubruch begeht). Sie will stattdessen zeigen, wie wirkmächtig diese weiterhin sind, weil diese Vergewaltigungsmythen in ihr Gegenteil verkehrt den feministischen Diskurs immer noch bestimmen.
„Faust in die Fresse“. Als fatale Überzeugung erwies sich laut Sanyal die Idee, eine Vergewaltigung sei das Schlimmste, was einer Frau passieren könne. Doch „ob man jemand seine Faust in die Fresse oder seinen Penis ins Geschlechtsteil schlägt, bezeichnet keinen Unterschied“, zitiert Sanyal Foucault, der für diese Aussage schon damals scharf kritisiert wurde. Sanyal erklärt sich diesen Sonderstatus, den sexuelle Gewalt einnimmt, durch die früher vorherrschende Annahme, die „Ehre“ einer Frau würde dadurch geraubt (rape kommt von Raub), eine Schande, auf die Betroffene unbedingt mit tiefer Scham zu reagieren hatten. Doch obwohl Scham keineswegs ein natürliches, sondern ein zutiefst kulturell erzeugtes Gefühl ist, existiere die Erwartung von Scham bis heute und präge unsere Idee davon, wie sich „richtige Opfer“ zu verhalten haben und dass sie ihr ganzes Leben „gezeichnet“ bleiben. Andernfalls werden sie entweder – auch von Polizei und Justiz – nicht ernst genommen oder pathologisiert.
Heilung. Man kann Sanyal (und Foucault) entgegenhalten, dass eine gewaltsame Penetration durchaus eine besonders grausame Grenzverletzung darstellt. Auch andere Zuspitzungen des Buches sind zumindest diskussionswürdig. Doch die Autorin kann glaubhaft machen, dass sie keineswegs eine Bagatellisierung oder Relativierung von Vergewaltigung anstrebt. Sondern eine veränderte Sichtweise, die auch für Betroffene von sexueller Gewalt befreiend sein kann. Denn gegenwärtig würde von ihnen quasi „erwartet“, dass sie an einer Vergewaltigung dauerhaft zerbrechen und für ihr ganzes Leben gezeichnet sind. Doch genau dadurch würde Heilung erschwert, sagt Sanyal in einem Interview.
Mithu M. Sanyal: Vergewaltigung
Nautilus 2016, 16,50 Euro