Der Briefroman „I love Dick“ ist eine Emanzipationsschrift der heterosexuellen Frau. Zwanzig Jahre nach seinem Erscheinen ist das Kultbuch nun ins Deutsche übersetzt worden. Von CAROLIN HAENTJES
Es begann wie eine klassische Dreiecksgeschichte: Das Paar Chris und Sylvère essen mit Dick, einem Bekannten, zu Abend. Die Männer diskutieren postmoderne Theorien, Chris sitzt daneben und glaubt, dass Dick ihr flirtende Blicke zuwirft. Der Zufall will, dass das Paar bei Dick übernachten muss. Aber dann passiert nichts weiter, außer in Chris’ Kopf: Sie stellt sich Sex mit Dick vor und glaubt, dass Dick die gleichen Fantasien hegt. Sie habe einen „Konzeptfick“ mit Dick erlebt und sich heftig verliebt, erklärt sie kurz darauf Sylvère. Der reagiert gelassen – in ihrer sexbefreiten Eheharmonie „halten sie ihre Intimität via Dekonstruktion aufrecht, d.h. sie erzählen einander alles“.
Stille Post. Sylvère, angetörnt von Chris’ Angetörnt-Sein, steht Chris bei, indem sie gemeinsam einen Brief an Dick formulieren, um ein neues Treffen vorzuschlagen. Aber anstatt ihn abzuschicken, schreibt Chris noch eine eigene Nachricht an Dick, und Sylvère auch, wieder Chris … Sie geraten in einen Schreibrausch, lesen einander vor, kommentieren sich, nähern sich durch das gemeinsame Schreiben als Paar wieder an. Sylvère findet das gut. Chris, der die Sache mit Dick ernst ist, nicht. Sie verlässt Sylvère. Und drückt Dick bei Gelegenheit den auf hunderte Seiten angewachsenen Briefstapel in die Hand.
Losschreiben. Chris schreibt immer weiter an Dick. Er dient ihr als Projektionsfläche für ihr wiederentdecktes Begehren, als idealer Adressat für ein Schreiben, mit dem sie sich aus ihrer Ehe und ihrer Schaffenskrise losreißt. Dass er kaum reagiert und sie bei den wenigen Treffen zu zweit herablassend behandelt, ernüchtert sie nicht. Stattdessen gewinnt die viel belesene, aber nicht akademisch gebildete Chris durch das fortgeführte Schreiben intellektuelles Selbstvertrauen. Die vormalige Videokünstlerin beginnt, ihr privates Drama, ihre verliebte Erniedrigung kulturkritisch zu reflektieren und dann öffentlich zu machen: 1997 publiziert sie die Briefe, ohne sich um die Verschleierung ihrer eigenen Identität, der ihres Mannes, des bekannten Intellektuellen Sylvère Lotringer, oder der von Dick – vermutlich der real existierende britische Kulturtheoretiker Dick Hebdige – zu scheren.
Eine Provokation, die Rechtsstreitigkeiten mit dem echten Dick zur Folge hatte, die aber auch den radikalen Anspruch ihrer Arbeit verdeutlicht: das Private politisch zu machen. So entwickelt sich „I love Dick“ von einem postmodernen Briefroman zu einem feministischen Essay. Seine Problemstellung beschreibt der doppeldeutige, auch obszön zu lesende Titel: die Emanzipation der heterosexuellen Frau.
Damit fühlte sich Kraus schon beim Schreiben in den 1990er-Jahren verspätet, waren zu dieser Zeit doch feministische Debatten zur Dekonstruktion biologischer Geschlechter übergegangen. Nur ist Theorie das eine und Praxis das andere. Deswegen ist Kraus’ Werk auch heute, zwanzig Jahre später nun endlich auf Deutsch erschienen, von höchster Aktualität. Nicht nur wegen ihrer immer noch treffenden Kritik am intellektuell-künstlerischen Milieu; nicht nur weil die begehrende Frau, die nicht jung und nicht schön ist, noch immer ein Skandalon ist. Sondern vor allem weil Kraus den Weg einer Künstlerin nachzeichnet, die den Bewertungsrahmen ihres Schaffens selbst festlegen will.
Privat und politisch. „Lieber Dick“, schreibt Kraus gegen Ende des Romans, „ich will eine Welt gestalten, die interessanter ist als meine Probleme. Deshalb muss ich meine Probleme gesellschaftlich darstellen.“ Das hat Kraus getan: indem sie klug, ironisch und intellektuell gewitzt das Genre des Briefromans in seiner weiblichen Tradition aufgebrochen und ihre persönliche Erfahrung mit Kunst, Literatur, Theorie und Künstlerinnenschicksalen verwoben hat. Manchmal greift sie auf ein antiquiertes feministisches „Wir“ zurück und lehnt sich damit weit aus dem Fenster. Aber es ist eben diese Waghalsigkeit, die Art, wie sich Kraus exponiert, die die Lektüre von „I love Dick“ so inspirierend macht. Wie Kraus selbst schreibt: „Besteht denn nicht die größte Freiheit der Welt gerade in der Möglichkeit, Unrecht zu haben?“
Chris Kraus: I love Dick
Matthes & Seitz 2017
22,70 Euro