Noch immer werden Frauen in der medizinischen Forschung vernachlässigt – und auch ihre Schmerzen werden weniger ernst genommen. Die Folge sind frustrierende Leidensgeschichten. Von Ruth Eisenreich
Als Martina H. im März 2017 die Schmerzambulanz verlässt, ist sie erleichtert. Die Höllenschmerzen, die sie seit acht Monaten quälen, sind zwar noch da, und sie werden nicht so bald verschwinden. Martina H. weiß auch noch immer nicht ganz sicher, woher sie kommen. Aber die Ärztin in der Ambulanz hat immerhin einen Verdacht. Sie kam darauf, weil sie ihr zugehört hat, sie ernst genommen hat. In den Monaten davor hat H. oft das Gegenteil erlebt.
Mindestens zehn Ärzten und Ärztinnen hat die damals 40-Jährige in dieser Zeit von ihren Beschwerden erzählt: dass ihre Beine seit Sommer 2016 ständig schmerzen; dass Schmerzmittel nicht helfen; dass sie nur mit winzigen Schritten gehen kann, weil die Beine so krampfen; dass sie kaum noch schläft, weil selbst die Berührung der Bettdecke Schmerzen auslöst. Sie habe immer dazugesagt, dass sie kurz vor Beginn der Beschwerden eine Gürtelrose hatte.
Martina H. erzählt, was sie bei ihrer Suche nach Hilfe von der Ärzteschaft zu hören bekam. „Sie schauen doch eh gut aus.“ „Warum wollen Sie Fahrrad fahren? Sie sind eh schlank.“ „In Ihrem Alter sind Frauenkörper einfach nicht mehr so belastbar.“ „Mir schlafen auch die Beine ein, wenn ich lange in derselben Position sitze.“ „Werden Sie doch nicht gleich hysterisch.“
Die Ärztin in der Schmerzambulanz, die sie ernst nahm und schließlich herausfand, was mit ihren Beinen nicht stimmte, habe ihr das Leben gerettet, sagt Martina H. „Ich habe damals schon überlegt, wenn ich nicht herausfinde, wie ich mit dem Schmerz umgehen kann“, sie zögert, bevor sie weiterspricht, „bringe ich mich um.“
Martina H.s Krankheitsverlauf war eher untypisch. Aber dass schon leichte Berührungen Schmerzen auslösten, dass die Schmerzmittel nicht halfen, die vorangegangene Gürtelrose: Das hätte all die Fachleute durchaus auf die richtige Spur bringen können. Hätten die Mediziner*innen ihr aufmerksamer zugehört, ihren Aussagen mehr vertraut, sie hätten Martina H.s Qualen vermutlich abkürzen können.
Das Problem liegt nicht nur bei den Ärzt*innen selbst. Es liegt in einem Gesundheitssystem, in dem Frauen weltweit Medikamente einnehmen, die nur an Männern getestet wurden, und in dem Geschlechterklischees dazu führen, dass Schmerzen von Frauen oft nicht ernst genommen, ihre Krankheiten nicht erkannt werden. Das Problem zieht sich durch alle Ebenen der Medizin, von der Forschung an Zellkulturen über klinische Studien bis hin zu Lehrbüchern.
Die US-Journalistin Maya Dusenbery hat für ihr 2018 erschienenes Buch „Doing Harm“ mit Ärzt*innen und betroffenen Frauen gesprochen und Dutzende Studien gewälzt. Sie definiert darin zwei „Lücken“, die Frauen immens schaden: den „Knowledge-Gap“, die Wissenslücke, und den „Trust- Gap“, die Vertrauenslücke.
Die Wissenslücke bedeutet: Wir wissen viel weniger über Frauen- als über Männerkörper. Nicht weil der Frauenkörper so viel komplizierter wäre, sondern weil er weniger erforscht wurde.
Test an Männern, Verabreichung an Frauen. Nach dem Skandal um das Beruhigungsmittel Contergan, das in den 1950er-Jahren zu Fehlbildungen bei Tausenden Neugeborenen führte, verschärfte die für Medikamentenzulassungen zuständige US-Behörde FDA die Regeln für Arzneimitteltests. Sie wollte verhindern, dass durch Tests an schwangeren Frauen Ungeborene geschädigt würden. Aber statt etwa vorzuschreiben, dass Frauen vor einer Teilnahme nach einer möglichen Schwangerschaft gefragt und über die Risiken aufgeklärt werden, schloss die FDA Frauen im gebärfähigen Alter komplett von klinischen Studien aus. Die Ironie: Gegen einen Fall wie Contergan hätte ein solches Verbot gar nicht geholfen, denn die betroffenen Frauen nahmen Contergan nicht im Zuge einer Studie, sondern nach seiner Zulassung. In den nächsten Jahrzehnten wurde es dennoch zur Regel, Medikamente an Männern zu testen und sie dann Frauen zu verabreichen. Bis heute machen Frauen nur einen kleinen Teil der Versuchspersonen in medizinischen Studien aus, und nur die wenigsten Studien werden auf Unterschiede zwischen den Geschlechtern hin ausgewertet.
Dusenbery beschreibt bizarre Auswüchse, zum Beispiel eine Studie von 1986 zum Einfluss von Übergewicht auf Brust- und Gebärmutterkrebs, die ohne eine einzige weibliche Teilnehmerin auskam. Und nicht nur Frauen werden in der medizinischen Forschung oft übergangen, sondern auch weibliche Mäuse und Ratten und sogar weibliche Zellen in der Petrischale. Sabine Oertelt-Prigione ist Professorin für geschlechtersensible Medizin an der Universität Bielefeld und der niederländischen Radboud-Universität, zuvor hat sie am 2003 gegründeten Institut für Geschlechterforschung in der Medizin an der Berliner Charité geforscht, dem ersten Institut im deutschsprachigen Raum. Fragt man sie, warum die Medizin erst in den letzten zwei, drei Jahrzehnten begann, auf die Unterschiede zwischen Frauen- und Männerkörpern zu achten, antwortet sie trocken: „Weil erst mal Frauen sterben mussten.“ Der Erkenntnisprozess begann in der Kardiologie. „Bis Ende der 1990er-Jahre dachte man, junge Frauen könnten keine Herzinfarkte haben“, sagt Oertelt-Prigione. „Dann sah man: Doch, sie haben Herzinfarkte, und sie sterben öfter daran als Männer.“ Häufigere Fehldiagnosen. Es zeigte sich, dass Herzinfarkte bei Frauen später erkannt werden, weil sie öfter atypische Symptome haben als Männer und seltener die klassischen in den Arm ausstrahlenden Brustschmerzen; und es zeigte sich auch, dass viele Medikamente bei Frauen mehr Nebenwirkungen haben, entweder weil ihre Wirkstoffe unterschiedlich abgebaut werden oder weil sie für Frauen schlicht zu hoch dosiert sind. Eine Studie aus dem Jahr 2000 untersuchte die Krankengeschichten von Menschen mit akuten Herzdurchblutungsstörungen. 2,2 Prozent von ihnen waren in der Notaufnahme falsch diagnostiziert und nach Hause geschickt worden – bei Frauen unter 55 lag die Rate dreimal so hoch.
Bei anderen Erkrankungen zeigen sich ebenfalls Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Asthma etwa, sagt Oertelt-Prigione, werde bei Mädchen später diagnostiziert als bei Buben, weil sie seltener die pfeifenden Laute beim Atmen von sich gäben, sondern oft nur einen trockenen Husten hätten. Die Rheuma-Erkrankung Morbus Bechterew galt lange als Männerkrankheit – heute vermuten manche Experten, dass sie bei beiden Geschlechtern gleich häufig auftritt, bei Frauen aber oft unerkannt blieb. Bei ihnen verläuft die charakteristische Versteifung der Wirbelsäule langsamer, dafür haben sie häufiger Entzündungen in den Knie- oder Hüftgelenken.
Umgekehrt sei die Situation bei Autoimmunerkrankungen, etwa bei Lupus erythematodes, sagt Sabine Oertelt-Prigione. „Davon sind tatsächlich mehr Frauen betroffen, aber Männer werden auch seltener und später diagnostiziert, weil sie oft keine roten Backen haben und ihre Finger nicht auf Kälte reagieren.“ Das sei doppelt problematisch, weil Autoimmunerkrankungen bei Männern meist schneller voranschritten als bei Frauen. Auch Osteoporose werde bei Männern oft nicht erkannt, dabei betreffe sie immerhin jeden dritten Mann über siebzig. Bei solchen Fehldiagnosen spielten neben atypischen Symptomen auch die Bilder eine Rolle, die Ärztinnen und Ärzte aus dem Medizinstudium mitnähmen, sagt Oertelt-Prigione: „Autoimmunerkrankungen oder Osteoporose hat in den Lehrbüchern fast immer eine Frau, einen Herzinfarkt ein Mann.“
Maya Dusenbery nennt dieses Problem den „knowledge-mediated bias“, eine „Wissensverzerrung“: Das Bewusstsein, dass eine bestimmte Krankheit bei einem Geschlecht häufiger vorkommt, könne sich so weit verselbstständigen, dass die Krankheit beim anderen Geschlecht gar nicht mehr erkannt werde. Dusenbery schildert etwa den Fall einer Frau, die unter der „Männerkrankheit“ Cluster-Kopfschmerz litt und der von Neurologen erklärt wurde, die Symptome, die sie beschreibe, könne sie gar nicht haben.
Eingebildete Schmerzen. Aber auch das, was Autorin Dusenbery den „Trust-Gap“ nennt, die Vertrauenslücke, spielt eine wichtige Rolle: Wir trauen Frauen weniger als Männern, wenn sie von ihren Beschwerden berichten. In einer Online-Umfrage 2014 unter 2400 Frauen mit Fibromyalgie, Migräne und anderen chronischen Schmerzen gaben 45 Prozent der Befragten an, mindestens einmal von einem Arzt gehört zu haben, sie bildeten sich ihre Schmerzen nur ein, und mehr als der Hälfte war gesagt worden: „Sie sehen gut aus, es muss Ihnen besser gehen.“ Für eine Anfang 2019 veröffentlichte Studie der Universität Yale zeigten Forscher*innen 264 Erwachsenen ein Video, in dem jemand einem kleinen Kind in den Finger sticht. Einer Hälfte wurde das Kind als Samuel präsentiert, der anderen als Samantha. Die Versuchspersonen, besonders die Frauen unter ihnen, stuften „Samuels“ Schmerzen als stärker ein als „Samanthas“.
Die Vertrauenslücke ist es, die auch Martina H. zu schaffen machte. „Die meisten Ärzte haben mich behandelt wie eine Hochstaplerin“, sagt sie. In der Schmerzambulanz wurde bei ihr schließlich eine Post-Zoster-Neuralgie diagnostiziert, ein Nervenschmerz, der als Folge einer Gürtelrose auftreten kann. Es ist eine Krankheit, die man nicht auf Röntgenbildern oder in Blutwerten erkennt. Man diagnostiziert sie, indem man bestimmte Medikamente, bei Martina H. waren es Anti-Epileptika, verschreibt – helfen die, ist die Diagnose bestätigt. Um überhaupt so weit zu kommen, müssen Ärzt*innen den Patient*innen allerdings glauben, dass ihre Schmerzen real sind, auch wenn diese sich nicht in Laborbefunden widerspiegeln. Daran scheiterte Martina H.: „Es gab nur meine Aussage, und die war nichts wert.“ Das Geschlecht der Behandelnden habe bei all dem genauso wenig eine Rolle gespielt wie die Frage, ob es ein Kassen- oder ein Wahlarzt war. Gerade Aussagen zu ihrem Äußeren seien meist von Frauen gekommen.
Irgendwann begann H., ihren Freund zu Arztterminen mitzunehmen – und war verblüfft, welchen Unterschied das machte. „Ich sage, dass ich Schmerzen habe, es kommt eine blöde Meldung zurück“, erzählt sie. „Dann wiederholt mein Freund, was ich gesagt habe, und die Ärztin sagt: Aha, ja, verstehe.“
Martina H. erinnert sich noch daran, wie die Sonne durch die Fenster im Treppenhaus schien, als sie im Frühling 2017 das erste Mal wieder von ihrer Wohnung im dritten Stock ins Erdgeschoß hinunterging, ohne sich am Geländer festzuhalten, ohne nach jedem Treppenabsatz eine Pause zu machen, ohne Schmerzen. Eineinhalb weitere Jahre sollte es dauern, bis sie ihre Medikamente absetzen konnte. Eine Anfälligkeit für Schmerzen und Krämpfe in den Beinen wird möglicherweise für immer bleiben. •