ErzieherInnen in Deutschland haben Anfang Mai zu Mittag ausnahmsweise nicht die Kinder niedergelegt, sondern ihre Arbeit. BARBARA TINHOFER hat mit Kolleginnen aus Deutschland über den Kita-Streik und seine Ursachen gesprochen.
Ab dem 11. Mai 2015 wurden Kindertagesstätten, Behindertenwerkstätten und Jugendzentren in ganz Deutschland bestreikt. Zu dem mittlerweile zur Schlichtung ausgesetzten Streik haben die für die kommunalen Kindertagesstätten zuständigen Gewerkschaften, neben Verdi die Erziehungsgewerkschaft GEW und der Beamtenbund, aufgerufen. Die Gewerkschaften fordern eine Höherstufung der Sozial- und Erziehungsberufe in den Gehaltstabellen des öffentlichen Dienstes. Der Verband Kommunaler Arbeitgeber (VKA) hält die Forderungen für nicht bezahlbar – die ErzieherInnen hingegen halten die Arbeits- und Lohnbedingungen für nicht tragbar. Und die Eltern haben erkannt, dass sie ihren Unmut gegen die Politik, nicht gegen die ErzieherInnen richten müssen.
Fehlende Vorausplanung. Seit August 2013 gibt es in Deutschland einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr. Doch das dafür nötige zusätzliche Personal und die Kindergärten fehlen. Ähnlich wie 2009 in Österreich, als das verpflichtende Kindergartenjahr und der beitragsfreie Kindergarten beschlossen wurden, hat die Gesetzesänderung nun auch in Deutschland zu massiven Belastungen für alle Beteiligten geführt. „Man hat einen Anspruch auf einen Betreuungsplatz eingeführt und sich keinen Kopf darüber gemacht, woher das zusätzliche Personal dafür kommt. Ausbaden müssen das im Moment Kinder (Ausflüge, Aktionen …), Eltern (verkürzte Öffnungszeiten) und das Personal (teils sehr kritische Besetzungen und Arbeit, die dem eigenen Qualitätsanspruch nicht genügt)“, kommentiert das eine Erzieherin aus Deutschland. (1)
Bereits im November 2014 hat Verdi mit der Kampagne „Sozial- und Erziehungsdienste: Aufwertung jetzt!“ begonnen. Zeitgleich gab es Tarifverhandlungen. Ergebnislos. Der Tarifvertrag wurde seitens der Gewerkschaften gekündigt, Warnstreiks ausgerufen und abgehalten. Bei einer Urabstimmung wurde für den unbefristeten Streik gestimmt. „Es gab viele KollegenInnen, die extra für den Streik in die Gewerkschaft eingetreten sind. Ich glaube, allein in München waren es um die 300 Neuanmeldungen“, bilanziert eine Streikende. „Die Stimmung war sehr gut. Streik trägt ja auch ein bisschen zur Teamfindung bei (wenn alle mitstreiken).“
Rathaus statt Kinderdisco. Bis auf einige Notbetriebe, die von nichtgewerkschaftlich organisierten ErzieherInnen aufrecht erhalten wurden, mussten sich die Eltern der Kitakinder nun selbst um die Obhut der eigenen Sprösslinge kümmern. Es wurden, wie schon 2009, Elterndienste in den eigenen vier Wänden organisiert, Verwandtschaft eingespannt, Urlaubstage beantragt oder unbezahlter Urlaub genommen. Erstmals gab es bei diesem Streik auch Angebote der Arbeitgeber, die Kinder an den Arbeitsplatz mitzunehmen. Ein Reiseveranstalter hat zum Beispiel Besprechungsräume in einen „Kinderclub mit Kinderdisco“ und Animation verwandelt. Zu Anfang musste viel Aufklärungsarbeit seitens der ErzieherInnen sowie der Gewerkschaften geleistet werden. Denn die Medien hatten zu Beginn des Streiks immer wieder von sehr hohen Bruttolöhnen für die ErzieherInnen berichtet und teilweise versucht, den Streik als überzogen darzustellen. Doch es ist nicht gelungen, betroffene Eltern und streikende ErzieherInnen gegeneinander auszuspielen. Denn die Fakten sehen anders aus.
Zeitdruck und Personalmangel. ErzieherInnen arbeiten unter ständigem Zeitdruck: Ausflüge oder Projekte zu planen und vorzubereiten, Kinder in der Gruppe zu beobachten oder in Einzelgesprächen und beim Spielen ihren momentanen Stand, ihre Interessen und Stimmungen zu erfassen, dafür braucht es Zeit und Personal. Es werden Entwicklungspläne erstellt und wertvolle, jedoch aufwändige Bildungspläne umgesetzt. Kinder werden wenn möglich individuell gefördert. Dafür bräucht es ebenfalls Zeit zur Reflexion und Vorbereitung.
Die Stressbelastung bei der Arbeit und der Lärmpegel sind enorm: In einer Studie zu Arbeitsbedingungen wurde in Kitas die Dezibelanzahl gemessen: In Spitzenzeiten liegt der bei 117 Dezibel. Das kommt einem startenden Düsenjet in 100 Metern Entfernung gleich. Das Einstiegsgehalt einer Erzieherin in Deutschland liegt bei ca. 2130 Euro brutto. Eine Familie zu ernähren ist damit kaum möglich. Viele arbeiten aufgrund der enormen Arbeitsbelastung auch nur Teilzeit.
ErzieherInnen fordern nun endlich eine Änderung dieser inakzeptablen Rahmenbedingungen und eine Aufwertung und Wertschätzung ihres Berufsfeldes. Die meisten Eltern waren bereit, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Mütter und Väter sind zum Beispiel kurzerhand mit ihren Kindern in die zuständigen Rathäuser (Hamburg, Leipzig, Main, Lübeck) gegangen und haben dort mit den Kindern kampiert, um die Forderungen der ErzieherInnen zu unterstützen und an die politisch Verantwortlichen zu richten. Hinzu kommt, dass Eltern nicht mehr gewillt sind, die Kita-Gebühren weiterhin zu bezahlen. Sie fordern das Geld von den Kommunen zurück, weil diese während des Streiks Ausgaben sparen, denn die ErzieherInnen werden ja aus der Streikkasse bezahlt. Das sehen viele Eltern nicht mehr ein, der Druck steigt.
Keine Lobby. In Österreich wurden die streikenden KollegInnen aus Deutschland medial weitgehend totgeschwiegen. Auch sonst interessiert man sich hierzulande wenig für Forderungen von ErzieherInnen. Die Gewerkschaften in Österreich haben sich bisher für die Belange der KindergartenpädagogInnen kaum bis gar nicht stark gemacht. Ganz zu schweigen von Studien, wie sie die Böckler-Stiftung durchgeführt hat, oder Kampagnen, wie von Verdi lanciert. Ohne gewerkschaftliche Unterstützung wird sich in Österreich jedoch kaum etwas zum Besseren verändern. Im Gegenteil, die Anforderungen an die Fachkräfte im Elementarbereich werden weiterhin steigen und die Arbeitszeiten der Eltern werden sich weiterhin ausdehnen. Doch die KindergartenpädagogInnen müssen ihre Aufmerksamkeit und Empathie, ihre Konfliktlösungsbegleitung auf bis zu 25 Kinder pro Gruppe aufteilen. Da bleibt nicht viel über pro Kind. Die Qualifikation der KindergartenpädagogInnen steigt stetig und immer mehr haben auch eine akademische Ausbildung. Viele ErzieherInnen wollen nach Jahren eines Studiums in einem anderen Bereich in ihren ersten Beruf zurückkehren. Doch sie scheitern an den Arbeitsbedingungen, die sich mit den Ansprüchen an die eigene Arbeit häufig nicht verbinden lassen. In einigen Häusern gibt es gar keine Vorbereitungszeit, keine Zeit für Teamgespräche, keine Zeit für Reflexion, Gruppen- oder Einzelbeobachtung. Ausflüge oder Elterngespräche, Entwicklungsgespräche, all das sind Standards in der täglichen Arbeit, die aufgrund von Personalmangel nicht gehalten werden können. Angesichts dieser Situation steigt der Frust der PädagogInnen und der Eltern auch in Österreich weiter, zum Streik ist es hierzulande trotzdem noch nicht gekommen. Doch ohne die Gewerkschaften wird das auch schwer möglich sein.
Barbara Tinhofer ist Kindergartenpädagogin in Wien und Mitbegründerin des Kollektivs Kindergartenaufstand: www.kindergartenaufstand.at
(1) Alle Zitate aus Interviews mit Erzieherinnen in Deutschland (anonym).
Buchempfehlung: Mit diesem Bilderbuch kann man mit Kindern erarbeiten, was Streik bedeutet: Doreen Cronin, Betsy Lewin: Click, Clack, Moo. Cows That Type. Simon and Schuster