Interview: Drei Kommandantinnen der kurdischen Frauenmiliz YPJ sprechen über das Fortwirken der IS-Ideologie und die Situation in Syrien nach dem Sturz von Langzeitdiktator Baschar al-Assad.
Es war die kurdische Frauenmiliz YPJ, die den Sieg gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) errang. Neben militärischer Verteidigung kämpft die YPJ (Yekîneyên Parastina Jin, „Frauenverteidigungseinheiten“), die 2013 in Rojava (Nordostsyrien) gegründet wurde, für Frauenrechte und gegen patriarchale Strukturen. Durch ihre einzigartige Verbindung von bewaffnetem Widerstand mit feministischer Gesellschaftspolitik gilt sie weltweit als Symbol für Frauenbefreiung. Drei YPJ-Kommandantinnen* erzählen im Interview vom Fortwirken der IS-Ideologie, den Herausforderungen der IS-Camps und Frauenrechten in Syrien nach dem Sturz von Langzeitdiktator Baschar al-Assad. Von Judith Götz
an.schläge: Die YPJ hat eine bedeutende Rolle in der Bekämpfung von Daesh1, wie der IS auch bezeichnet wird, eingenommen. Wie bewerten Sie die Lage, seit dieser besiegt wurde?
Lana Hisen: Daesh ist noch immer erfolgreich – nicht militärisch, aber ideologisch. Dass wir ihn besiegen konnten, ist international bekannt, auch wenn es niemand laut sagt: Weder nationale Armeen noch Staaten haben diese Aufgabe geschafft. Das waren wir und wir tun es weiter. Denn solange diese Mentalität weiter existiert, bleibt sie eine Gefahr für alle – insbesondere Frauen, Kurd*innen, Jesid*innen, demokratische Kräfte.
Die eigentliche Gefahr ist die ungebrochene Radikalität. Selbst die 2014 gegründete Anti-IS-Koalition, der sich zahlreiche Staaten angeschlossen haben, konnte das nicht stoppen. Warum? Weil ihr Handeln widersprüchlich ist: Einerseits bekämpft man den Terror, andererseits lässt man zu, dass Regime wie das von Assad oder Gruppen wie die HTS2, die nun Syrien regiert, an der Macht bleiben oder an die Macht kommen. Manche Kräfte nutzen den „Kampf gegen den IS“ nur für eigene Interessen. In Nordostsyrien haben wir bewiesen, dass es anders geht: Unser Projekt der Demokratischen Nation vereint Kurd*innen, Araber*innen, Armenier*innen, Assyrer*innen – trotz unterschiedlicher Sprachen und Kulturen. Während in den letzten Monaten im Süden Syriens Massaker und Chaos herrschten, bleibt unser Gebiet stabil. Das ist kein Zufall: Wo Menschen gleichberechtigt zusammenleben, breitet sich Hass nicht so einfach aus.
In Nordostsyrien gibt es nach wie vor Gefangenenlager, in denen zigtausende IS-Kämpfer*innen festgehalten werden – darunter viele ausländische Jihadist*innen, deren Familien und Kinder. Europa scheint Rojava mit diesem Problem weitgehend alleine zu lassen. Könnten Sie konkret beschreiben, mit welchen Herausforderungen Sie in den IS-Camps täglich konfrontiert sind?
Viyan Adar: Unsere Hauptaufgabe ist jetzt, mit der internationalen Koalition die Rückführung von IS-Familien zu organisieren. Doch schon die Herkunftsbestimmung ist schwierig: Frauen machen falsche Angaben. Ein weiteres Problem ist, dass europäische Staaten nur Kinder zurückholen wollen, nicht die Mütter. Für uns ist diese Trennung unethisch – aber die Verhandlungen ziehen sich über Jahre. Jeder Besuch in den Camps ist lebensgefährlich. Ich selbst wurde mit einem Messer angegriffen; meine Kollegin verletzt. Was wir in diesen Camps erleben, ist die Fortsetzung des IS-Terrors durch seine Ideologie. Kinder – manche erst vier Jahre alt – lernen nicht spielen oder malen, sondern das Köpfen von Puppen. Als wir eine Operation im Camp gemacht haben, hat ein vierjähriges Kind den Finger hochgehalten und gezeigt „Wir werden euch alle köpfen“. Wir haben aber auch miterlebt, dass Kinder zu uns gerannt kommen und sagen: „Nimm mich mit“, „Schütz uns vor dem Grauen“.
Im Frauencamp wollen die Gefangenen weiterhin Kinder bekommen, um so die Zukunft des Islamischen Staates zu sichern. Dort gibt es eigentlich keine Männer, aber sie benutzen sogar Müllarbeiter, die ins Camp kommen, oder auch die männlichen Kinder, um neue Kämpfer zu zeugen. Wir haben daher entschieden, die zwölf bis 13-jährigen Jungen von dort wegzubringen – in einen anderen Bereich. Die Frauen verstecken jetzt die Kinder vor uns, bringen sie jeden Abend in ein anderes Zelt. Sie glauben, dass sie etwas Heiliges, etwas Gutes tun und damit Daesh unterstützen. Das ist die größte Ungerechtigkeit den Kindern gegenüber. Die internationalen Organisationen, die die Kinderrechte verteidigen, müssten alles auf den Kopf stellen, um das zu verhindern. Aber die internationale Gemeinschaft schaut weg. Jeder Tag, der vergeht, ist ein weiterer Tag, an dem eine neue Generation im Namen von Daesh vergiftet wird.
In Syrien hat sich in den letzten Monaten einiges getan. Mazlum Abdi, der Anführer des Militärbündnisses der kurdischen Volksverteidigungseinheiten in Nord- und Ostsyrien SDF (Syrian Democratic Forces) hat im März mit dem islamistischen neuen Präsidenten Syriens, Ahmed al-Scharaa, ein Rahmenabkommen mit mehreren Bestimmungen zur Zukunft Syriens unterzeichnet, allerdings ohne die weibliche Co-Vorsitzende der Selbstverwaltung einzubeziehen und ohne jegliche Erwähnung von Frauenrechten. Wie erklärt die YPJ diesen Widerspruch zu ihren eigenen Prinzipien der paritätischen Demokratie? Sehen Sie darin ein bewusstes Zurückdrängen feministischer Errungenschaften zugunsten realpolitischer Kompromisse?
Viyan Adar: Natürlich wurde das kritisiert. Aber wir können uns nicht an allem festklammern. Nicht alles ist entweder richtig oder falsch – nicht alles ist schwarz oder weiß. Es kann nicht immer alles genau so laufen, wie wir es uns vorstellen. Es ist wichtig, irgendwo anzufangen. Wenn man versucht, alles von Beginn an perfekt umzusetzen, besteht die Gefahr, dass am Ende gar nichts passiert. Eines ist für uns aber klar: Wenn unsere Rechte als Frauen nicht anerkannt werden, dann werden wir diesen Weg nicht mitgehen. Solange Frauenmörder wie Abu Hatem Shaqra, Anführer der Jihadistenmiliz, die 2019 die kurdische Politikerin Hevrîn Xelef ermordete, in der Regierung sitzen, können wir als YPJ nicht einfach mitmachen. Erst wenn die Verfassung Frauenrechte garantiert und solche Mörder zur Rechenschaft gezogen werden, ist eine echte Zusammenarbeit möglich. Alles andere wäre Verrat an unseren Prinzipien.
Aber das hier war ein erster Schritt. Diese Vereinbarung soll Syrien endlich Demokratie bringen. Dafür kämpfen wir seit Jahren, schon unter Assad. Jetzt werden Komitees eingerichtet, in denen die einzelnen Punkte konkret verhandelt werden. Erst dann können wir über die Details sprechen. Aber bevor wir als Frauen etwas unterzeichnen, müssen diese Punkte genau und gemeinsam diskutiert werden. Das ist entscheidend – auch um die Errungenschaften der Frauenbewegung zu schützen.
Die neue syrische Regierung strebt die Integration verschiedener bewaffneter Gruppen in eine nationale Armee an. Ziel ist es, alle Milizen aufzulösen und ihre Kämpfer dem Verteidigungsministerium zu unterstellen, um die staatliche Kontrolle über das gesamte Land wiederherzustellen. Ist das auch für die YPJ möglich und könnten Sie sich vorstellen, unter den Voraussetzungen mit HTS-Kämpfern – die Frauenrechte wie auch Frauen im Militär ablehnen – gemeinsam zu operieren?
Beritan: Als YPJ – nicht nur persönlich, sondern als gesamte Einheit – können wir uns das nicht vorstellen. Die Ideologie der HTS schließt Frauen aus. Klar können wir jetzt sagen, vielleicht gibt es die Möglichkeit, dass sich das verändert. Aber die ist sehr klein. Die patriarchale Mentalität, die auch der HTS vertritt, ist unser größter Feind. Unser Kampf heute wird nicht mit Waffen geführt, sondern in den Köpfen. Und diesen Kampf werden wir entschlossen weiterführen. Wir führen diesen Kampf nicht nur für Kurd*innen, Nordostsyrien, Syrien, sondern insgesamt für die ganze Welt. Die patriarchale Mentalität gibt es schließlich überall und in allen Staaten. Wichtig ist jetzt, dass sich Frauen in ganz Syrien – nicht nur die YPJ – zusammenschließen. Wir sind nur ein Teil dieser Bewegung. Aber wir akzeptieren weder die HTS-Ideologie noch ihre Verfassung. Wir werden mit dieser Mentalität keinen Tag und keine Stunde leben.
Judith Götz ist Politikwissenschaftlerin und war Teil einer Solidaritätsdelegation aus Österreich, die Anfang April 2025 nach Rojava reiste und dort neben vielen anderen Frauenorganisationen auch Vertreterinnen der YPJ zum Gespräch traf.