Endlich ist das berührende Werk der Dichterin Semra Ertan, die sich 1982 als Zeichen gegen Rassismus in Hamburg öffentlich verbrannte, publiziert. Von Fiona Sara Schmidt.
Mit zwanzig Jahren schreibt Semra Ertan: „Auch wenn ich eine unerfahrene Dichterin bin, / Erzähle ich, was ich sagen möchte, (…) Erst später werden sie es schätzen, / Deren Wert … / Dann werde ich, / Allen unbekannt, / In weiter Ferne sein.“ Fast vierzig Jahre nach ihrem Tod sind nun 82 Gedichte der Lyrikerin in einem Band auf Deutsch und Türkisch versammelt.
1957 im türkischen Mersin geboren, folgt Semra Ertan 1971 ihren Eltern, die als Arbeitsmigrantinnen in Kiel leben, nach Deutschland. In dieser Zeit beginnt sie zu schreiben, zunächst auf Türkisch, später zunehmend auf Deutsch. Ihre schnörkellose Lyrik ist anklagend und verzweifelt, gleichzeitig liebevoll und kämpferisch. Oft thematisieren die Gedichte das Schreiben als Selbstermächtigung – Poesie und Aktivismus sind bei Semra Ertan verschränkt, sie fordert sich selbst und ihre Leserinnen zu Mut und Widerstand auf.
Mein Name ist Ausländer. Semra Ertan schreibt gegen Rassismus in Deutschland an und ihre Gedichte haben nichts an Aktualität eingebüßt, denkt man etwa an den Aufstieg der AfD, den NSU-Terror samt der skandalösen Versäumnisse der Behörden oder an das Attentat von Hanau. Ihr bekanntestes, dem Band titelgebendes Gedicht von 1981 beginnt so:
„Mein Name ist Ausländer,
Ich arbeite hier,
Ich weiß, wie ich arbeite,
Ob die Deutschen es auch wissen?
Meine Arbeit ist schwer,
Meine Arbeit ist schmutzig.
Das gefällt mir nicht, sage ich.
‚Wenn dir deine Arbeit nicht
gefällt,
Geh in deine Heimat‘, sagen sie.“
Deutschland befindet sich Anfang der 1980er in einer Rezession, die „Gastarbeiter“ der Wirtschaftswunderzeit sind nicht länger erwünscht und werden offen angefeindet, in Hamburg wird die NPD-nahe Liste für Ausländerstopp gegründet. „Mein Land hat mich nach Deutschland verkauft“, heißt es in dem Gedicht weiter, „wie Stiefkinder, wie unbrauchbare Menschen.“
Semra Ertan befindet sich bereits im Hungerstreik, als sie am Abend vor ihrem Suizid den Rundfunk anruft und dieses Gedicht vorliest. Sie sagt am Telefon: „Ich möchte, dass Ausländer nicht nur das Recht haben, wie Menschen zu leben, sondern auch das Recht haben, wie Menschen behandelt zu werden. Das ist alles. Ich will, dass die Menschen sich lieben und akzeptieren. Und ich will, dass sie über meinen Tod nachdenken.“ Eine Reporterin interviewt sie noch, bevor sie an einer Tankstelle einen Kanister Benzin kauft und sich anzündet. Zwei Tage später, an ihrem 25. Geburtstag, stirbt sie infolge ihrer Verletzungen.
Ich bin eine Arbeitertochter. Nur wenige Werke Semra Ertans werden zu ihren Lebzeiten in türkischen Zeitungen und deutschen Anthologien veröffentlicht. Sie beginnt mehrere Ausbildungen und arbeitet zeitweise als technische Zeichnerin und ehrenamtliche Dolmetscherin. Semra Ertan schreibt oft über ausbeutende Arbeitsverhältnisse und prekäre Lebensbedingungen: „Wenn ich sterben will, das Geld reicht nicht mal für die Beerdigung“. Ein Gedicht beschreibt das lyrische Ich als Arbeitertochter: „Ich konnte mich nie an die Reichen gewöhnen, / Die mit Abscheu / Die Klassen unter ihnen / Verachten“.
Kurz vor ihrem Tod wird Semra Ertan Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller, sie plante eine eigene Publikation. Die sogenannte Gastarbeiterliteratur ist eine Fußnote im Kanon der deutschsprachigen Literatur geblieben, als Spielart politisch engagierter Autorinnen der 1970er-Jahre. Im Vorwort halten die Herausgeberinnen fest: „Die Einzigartigkeit von Semra Ertans Lebenswerk ist unbestreitbar. Und doch haben wir uns gefragt, wie viele weitere Archive anderer Denkerinnen und Künstlerinnen verloren gegangen sein könnten, weil ihnen Blick und Gehör verwehrt wurden.“
Unheimlich glücklich. Türkisch und Deutsch stehen im Buch nun gleichwertig nebeneinander. Im Deutschen wirken ihre Dekonstruktionen sprachlicher Eigenheiten am stärksten, etwa die Meditation über die Formulierung „Unheimlich Glücklich“, was neben großem Glück auch heimliches Unglück bedeuten kann oder Unglück ohne Heimat.
Es finden sich auch Liebesgedichte, solche über Begegnungen und Abschied, mit elegant konstruierten Zeilen wie: „Und / Lautlos trennten wir uns / So wie eine Nachtigall und eine Rose, / Ein Meer und eine Möwe / Sich getrennt haben“. Im Türkischen gibt es keine Artikel, die dritte Person ist nicht als weiblich oder männlich definiert. Das eröffnet bei der Interpretation und Übersetzung viel mehr Spielräume. In einem Gedicht über Frauen aus der Türkei spielt Semra Ertan mit der Perspektive und wechselt von der Außen- zur Innensicht, von „Nein zu sagen ist ihnen verwehrt“ zum finalen „So leben wir“.
Was ich mir wünsche. Semra Ertan war eine von sechs Schwestern. Die älteste, Zühal Bilir-Meier – aufgrund von Semras Geschichte wurde sie Psychotherapeutin –, hat gemeinsam mit ihrer Tochter, der Kunstpädagogin und Künstlerin Cana Bilir-Meier, den Gedichtband nach langer Planung nun endlich herausgegeben. Mit zahlreichen Fotos, Faksimiles und Übersetzungen der Autorin hat er Werkstattcharakter. Notizbücher, Dokumente und Zeitungsberichte lagen 38 Jahre verschlossen in einer Kiste. Einige der mehr als 350 Gedichte wirkten wie zur Veröffentlichung vorbereitet, die Übersetzung nahm die Familie selbst in die Hand.
Die Publikation gibt Semra Ertan ihre Stimme zurück. Als „Tod einer Türkin“ wurde ihr Suizid medial verhandelt, ihr Gedicht am nächsten Tag in den Boulevardmedien sinnentstellend zitiert. Günter Wallraff schrieb ihren Namen in der Widmung seines „Ali“-Aufdeckerbuchs „Ganz unten“ falsch. Als Leserin spürt man die Verzweiflung und Hilflosigkeit Semra Ertans angesichts eines Systems struktureller Diskriminierung, oft zeigt sie sich aber auch rebellisch und lebenslustig – und sie schenkte Bekanntschaften manchmal spontan Gedichte. Ihre Nichte Cana Bilir-Meier hat Semra Ertan persönlich nicht gekannt, sich ihr jedoch mehrfach künstlerisch genähert. Ihr Kurzfilm1 besteht aus einem Gedicht in Semras Handschrift, Fotos und kurzen Ausschnitten eines Fernsehbeitrags über ihren Tod. Durch die bewussten Auslassungen wird deutlich, wie stereotyp die Narrative über Migrantinnen seit damals im deutschsprachigen Raum geblieben sind.
2018 gründeten Freund*innen und Familie die Initiative in Gedenken an Semra Ertan2 in Hamburg, die eine Gedenktafel und die Benennung einer Straße nach der Dichterin fordert. „Ich will leben, / Wie ich es mir Wünsche … Schmerzlos, ohne Sorgen. / Ich will lieben, / Geliebt werden, / Wie es sich mein Herz erträumt“, beginnt das letzte Gedicht des Buches.
Fiona Sara Schmidt ist freie Redakteurin und Lektorin in Wien. Von Semra Ertan las sie erstmals vor zehn Jahren während ihrer Magisterarbeit zu deutsch-türkischer Gegenwartsliteratur.
1 Cana Bilir-Meier: Semra Ertan
HD-Video, 2013, www.canabilirmeier.com
2 Initiative: https://semraertaninitiative.wordpress.com