Vor allem Frauen lieben True Crime. Beruht der gewaltige Erfolg des Genres allein auf sensationalistischer Schaulust? Oder dient es vielleicht sogar der Gewaltprävention? Von SOPHIA KRAUSS
»Die Fähigkeit, zum Täter zu werden, liegt in jedem Einzelnen«, sagt Sabine Rückert im Interview mit dem „Deutschlandfunk“. Rückert war lange Gerichtsreporterin, schließlich stellvertretende Chefredakteurin der „Zeit“ und ist heute eine der erfolgreichsten Podcaster*innen Deutschlands: Seit 2018 ist sie die Stimme von „Zeit“-Verbrechen und erreicht pro Folge 1,28 Millionen Hörer*innen.
True Crime boomt. Überall, ob in Literatur oder auf Netflix, geht es heute um wahre Kriminalgeschichten. Doch insbesondere mit dem Aufstieg der Podcast-Industrie konnte sich das Genre immer gewinnbringender durchsetzen:
2023 drehten sich 18 Prozent der hundert weltweit meistgehörten Podcasts um wahre Kriminalfälle. Einige sehen das kritisch. Der „Weisse Ring“, der Betroffene von Kriminalität unterstützt, schreibt polemisch: „‚Wahre Verbrechen‘ sind für Medien ‚Ware Verbrechen‘“.
Eingefleischte Fans können inzwischen Jutebeutel und Tassen mit „Zeit“-Verbrechen-Print bestellen, während sie Rückerts Gesprächen mit Kriminaljournalist*innen lauschen. Diese sind oft von dem Wunsch motiviert, verstehen zu wollen: Was hat Täter*innen dazu bewegt, eine grausame Tat zu begehen? Ist die Fähigkeit zum Bösen vielleicht in uns allen angelegt? Und kann sie durch Kontextualisierung zumindest rational nachvollziehbar werden? Es ist ein Fokus auf die Täter*innenperspektive, den auch der Weisse Ring kritisiert: Betroffene werden oftmals gar nicht in Rechercheprozesse miteinbezogen. Einige erleben eine Retraumatisierung, wenn sie plötzlich und unvorbereitet in den Medien auf die Geschichte der eigenen Gewalterfahrung stoßen. US-amerikanische Studien belegen außerdem: Die Geschichten rassifizierter Betroffener werden noch weniger erzählt, denn aufgrund rassistischer Stereotype eignen sie sich nicht als Opfer in einer voyeuristischen Dramaturgie für die Dominanzgesellschaft. Diese Täter*innenperspektive lockt den Großteil des Publikums an, so Corinna Perchtold-Stefan von der Uni Graz, deren Team rund sechshundert Personen zu ihrem True-Crime-Konsum befragte: „75 Prozent führten an, die Psychologie hinter den schrecklichen Taten verstehen zu wollen.“ Die Mehrheit dieser Konsument*innen sind dabei Frauen, auch weltweit: Ihr durchschnittlicher True-Crime-Konsum lag in der Grazer Studie bei sieben Stunden pro Woche, der von Männern bei rund vier. Zwar widersprach der Großteil der meist weiblichen Teilnehmenden einer australischen Studie der radikalen Aussage, sie hörten True Crime, um zu erfahren, was ihnen als Opfer passieren könnte. Trotzdem dürfte das weibliche Interesse an True-Crime-Formaten auch den Aspekt der „Safety Work“ beinhalten, so die US-Forscherin Laura Vitis. Schließlich belegten andere Studien, dass die Themen Sicherheit und Gewaltbetroffenheit eine große Rolle beim True-Crime-Konsum von Frauen spielen. Mit Safety Work ist die Arbeit gemeint, die Frauen leisten, um zu verhindern, dass ihnen Gewalt widerfährt: Sie lernen, bestimmte Umgebungen zu meiden oder in bestimmten Kontexten offensichtliche Zeichen von Weiblichkeit zu minimieren. Und ich denke, dass dieses Konzept wohl auch auf trans* Männer und nicht-binäre Personen erweitert werden muss. Safety Work ist allgegenwärtig, arbeitsintensiv – und bleibt unerkannt, wenn Gewalt erfolgreich verhindert werden kann. Sie wird oft routinemäßig geleistet, weil die eigene Geschlechtsidentität als inhärent unsicher empfunden wird. Zu Recht, schließlich wurden im Jahr 2024 alleine in Österreich 27 Frauen von Männern aus ihrem unmittelbaren Umfeld ermordet.
Auch Valerie L. erlebte jahrelang Gewalt durch den Partner. Sie steht im Mittelpunkt der allerersten „Zeit“-Verbrechen-Folge. Zu Beginn des Podcasts wird darauf hingewiesen, dass Intimbeziehungen statistisch gesehen am gefährlichsten für Frauen sind. Valerie L.s Schicksal unterscheidet sich jedoch drastisch von dem der meisten Betroffenen: Sie bezahlte einen Auftragskiller und ließ ihren gewalttätigen Ehemann schließlich umbringen. Weit wahrscheinlicher wäre es gewesen, wenn sie selbst Opfer eines Femizids und nicht zum hollywoodreifen Racheengel geworden wäre.
Hat Rückert Recht und kann jede*r von uns unter bestimmten Einflüssen Täter*in werden? Eine Antwort auf diese Frage darf nicht ausklammern, dass patriarchale Strukturen dazu führen, dass Männer wesentlich häufiger Gewalt ausüben als Frauen. Das macht auch True Crime immer wieder zum Thema. Häufiger jedoch gleitet das Genre leider ab in die sensationalistische Jagd vermeintlicher Einzelschicksale.