An der neoliberalen Wachstumsdoktrin hat auch die Wirtschaftskrise kaum gerüttelt. Zeit für einen Neuanfang, sagt die Ökonomin
GABRIELE MICHALITSCH im Interview mit LEA SUSEMICHEL.
an.schläge: Direkt nach der Finanzkrise hatten kapitalismuskritische Positionen mehr gesellschaftlichen Rückhalt. Was hat sich seither verändert?
Gabriele Michalitsch: Zunächst hat sich nach der schreckhaften Erstarrung Ende 2008 bis etwa Mitte 2009 die neoliberale Reaktion formiert und erfolgreich ihre Medienmacht eingesetzt, um Deutungshoheit im Hinblick auf die Krise, deren Ursachen und entsprechende politische Antworten zu gewinnen. Diese Antworten haben die infolge neoliberaler Restrukturierung ohnehin schon sehr ungleichen sozialen Verhältnisse weiter polarisiert. Das hat zu sehr viel Resignation geführt. Gleichzeitig wurden wachsende Frustrationen und Aggressionen politisch und medial umgelenkt und gegen andere gerichtet, gegen „die“ Griechen, gegen „den“ Islam, gegen „die“ Flüchtlinge. Die anderen, wer immer das nun ist, dienen als Sündenböcke. Wir kennen das aus der Geschichte – ein sehr besorgniserregendes Memento.
Wirtschaftspolitisch gilt Wachstum global weiterhin als zentrale Leitlinie. Welche sinnvollen Alternativen gäbe es?
Zunächst gilt es, Wirtschaftswachstum zu entmystifizieren, das Bruttoinlandsprodukt als Wohlstandsindikator zu problematisieren, aufzuzeigen, was dieses Maß – vor allem an sozial und ökologisch destruktiven Dimensionen der Ökonomie – ausblendet. Gleichzeitig muss die Verteilungsfrage auf globaler ebenso wie auf nationalstaatlicher Ebene in den Mittelpunkt rücken.
Weltweit bedeutet das einen regional durchaus differenzierten Zugang zu Wachstum. In den postindustriellen Ländern Europas und Nordamerikas geht es um eine Abkehr vom Wachstumsmodell und eine schrittweise ökonomische wie gesellschaftliche Transformation. Ein erster Schritt wäre die strikte Regulierung und Besteuerung von Finanzakteuren und Großunternehmen, um deren Dominanz einzuschränken und tatsächlich Märkte anstelle von Monopolen oder Oligopolen zu etablieren. Die betriebliche Mitbestimmung in den Unternehmen selbst wäre auszuweiten. Darüber hinaus wäre die Freihandelsdoktrin unter ökologischen und sozialen Gesichtspunkten infrage zu stellen, insbesondere Transportkosten müssten deutlich steigen. Zugleich sind die Bedingungen für unterschiedliche Formen regionaler und solidarischer Ökonomie zu verbessern und deren Spielräume zu erweitern – all das eingebettet in eine breite öffentliche Auseinandersetzung über Konsum, Wohlstand und Lebensweise sowie die destruktiven Aspekte der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung. Daraus könnte sich eine pluralistische Ökonomie mit einer Marktwirtschaft entwickeln, die ihrem Namen entspricht, und einem großen solidarischen Sektor. Das wäre die Richtung, die westliche Gesellschaften einschlagen könnten, um Entwicklungsoptionen auszuweiten, statt sie durch Fixierung auf Profit einzuschränken.
KritikerInnen sprechen von den ökologischen Grenzen des Wachstums. Gibt es noch andere Grenzen?
Ich denke, es geht um Fragen der Grenzsetzung. „Grenzen des Wachstums“ sind eher als Chiffre für Grenzziehungen zu verstehen. Es gibt ja keinen eindeutigen Marker, der eine objektive Grenze des Wachstums anzeigen würde. Vielmehr geht es darum, die destruktiven Wirkungen der gegenwärtigen Produktionsweise aufzuzeigen und die Frage zu stellen, welchen Weg ökonomischer – und damit gesellschaftlicher – Entwicklung wir beschreiten. Die Frage nach Grenzen des Wachstums ließe sich auch als eine nach Grenzen von Gewalt oder menschlichem Leid stellen. Wie viel Leid soll das kapitalistische Modell mit seinem spezifischen Fortschrittsverständnis für den Profit einiger weniger produzieren? Immer geht es letztlich um Fragen von Macht und Herrschaft.
Radikale Wachstumskritik wird auch in der Linken nicht sehr offensiv vertreten, innerhalb des Parteienspektrums schon gar nicht. Woran liegt das?
Nun, einerseits ist die Linke in Südeuropa am stärksten, dort ist unter den gegebenen Bedingungen angesichts der herrschenden Logik Wirtschaftswachstum wohl die einzige Option, sich aus dem finanziellen Würgegriff zu lösen und die Lebensverhältnisse der Bevölkerung zu verbessern. Andererseits stellt sich die Frage, was von der Linken im restlichen Europa geblieben ist. Die Sozialdemokratie ist seit den 1990er-Jahren zunehmend auf einen neoliberalen Kurs umgeschwenkt, der Mainstream ist sehr weit nach rechts gerutscht, abweichende Positionen finden kaum Gehör. Die Linke ist vielfach marginalisiert und viele fürchten wohl nicht nur, sich mit utopisch anmutenden Ideen vollends ins Aus zu stellen, sondern auch ihre potenziellen WählerInnen, die ja nicht unbedingt zu den materiell Privilegierten zählen, abzuschrecken.
Wachstumskritik scheint unweigerlich mit dem Aufruf zu Verzicht einherzugehen. Können gesellschaftliche Gegenentwürfe ohne Wohlstandsversprechen überhaupt erfolgreich sein? Kann langfristig vielleicht eine andere Definition von Wohlstand entwickelt werden, die zum Beispiel weniger (Lohn-)Arbeitszeit als Luxus betrachtet?
Wachstumskritik bedeutet eben nicht eine Forderung nach Verzicht, sondern will eine andere Form von Reichtum: weniger entfremdete Arbeit, weniger kurzlebige Produkte, mehr Zeit für sich und andere, mehr Selbstbestimmung, mehr Freiheit, mehr Lebenssinn. Es geht um Freiheit jenseits von Konsum, um Emanzipation, um eine grundlegende Redefinition von Wohlstand. Selbstverständlich muss jede Alternative Hoffnung vermitteln, einen Entwurf eines besseren Lebens. Um das, was unter einem besseren Leben zu verstehen ist, wird eben gerungen. Die Kulturindustrie hält uns diesbezüglich am Gängelband, Wohlstand wird als Konsum definiert. Es geht darum, sich aus dieser Falle zu befreien.
Ökofeministische Positionen sind oft technologieskeptisch, meist verbunden mit einem essentialistischen, an Mutterschaft geknüpften Frauenbild, und stellen Care- und Subsistenz-Arbeit in den Mittelpunkt. Das ist für viele Feministinnen nicht sehr attraktiv. Welche feministischen, kapitalismuskritischen Alternativen gibt es?
Ich denke, die Verknüpfung von Ökofeminismus und Essentialismus hat sich seit den 1980er-Jahren nach und nach gelöst. Feministische Ökonomie, die auf das als „weiblich“ Abgewertete Bezug nimmt, zu dem ja auch die Natur zählt, muss keineswegs mit einem essentialistischen Verständnis von Geschlecht einhergehen. Gleichzeitig muss Feminismus mehr denn je technologiekritisch sein, denken Sie nur an all die Überwachungs- und Kontrolltechnologien, die in den letzten beiden Jahrzehnten entwickelt wurden und großflächig eingesetzt werden; oder auch an die Interventionen in den Körper, um diesen zu optimieren, sei es im Hinblick auf Leistungsfähigkeit oder auf Schönheit. Das sind zentrale Herrschaftsinstrumente.
Die Alternative besteht darin, die schon angesprochene Perspektive einer politökonomischen Transformation mit Geschlechterverhältnissen zu verknüpfen, sich von den dominanten kulturindustriellen Geschlechterentwürfen zu befreien, vom Zeitregime, das ja mit der Zuweisung der unbezahlten Arbeit an Frauen auch ein geschlechterhierarchisches ist. Politökonomische Transformation bedeutet Transformation von Macht- und Herrschaftsverhältnissen und schließt somit Geschlechterverhältnisse ein.
Sogenannter „Grüner Kapitalismus“, betreibt oft ein „Greenwashing“ von ausbeuterischem Unternehmertum. Welche Kriterien muss nachhaltiges Wirtschaften außer ökologischen Standards noch erfüllen?
Auch „Grüner Kapitalismus“ ist Kapitalismus, beruht also aus marxscher Sicht auf Ausbeutung der Arbeitskraft und somit auf einem grundlegenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnis. Die Rede von „Grünem Kapitalismus“ und „nachhaltigem Wirtschaften“ scheint mir eher der Legitimation bestehender
Verhältnisse zu dienen.
Kann aus der Commons-Bewegung langfristig mehr entstehen als Gemeinschaftsgärten? Kann die Idee von gemeinschaftlichen Ressourcen der kapitalistischen Marktlogik etwas entgegensetzen?
Ja, auf jeden Fall. Commons bedeuten ja, Privateigentum an Produktionsmitteln zugunsten gemeinsamen Eigentums Gleichberechtigter zu überwinden. Damit verbinden sich auch entsprechende solidarische Entscheidungsprozesse. Die Idee der Commons beschränkt sich also nicht auf formal-juristische Aspekte, sondern betrifft unmittelbar Alltagspraktiken. Letztlich geht es um eine basale Demokratisierung, nicht nur beim Wirtschaften, es geht um eine andere Logik des Zusammenlebens, die sich auf Gemeinsamkeit statt Konkurrenz stützt.
Gabriele Michalitsch ist Politikwissenschaftlerin und Ökonomin, derzeit Universitätsprofessorin für Internationale Politik an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind (Feministische) Politische Ökonomie und politische Theorien.