Bei opulentem bis besinnlich-ausgefallenem Songwriting kann der Herbst mit seinen fallenden Blättern und Temperaturen kommen – und gegen die Zuhause-Depression helfen dann tiefe Bassbeats, meint SONJA EISMANN.
„Ich bin von der Idee fasziniert zu ertrinken“, ist im Booklet der neuen CD von Florence and the Machine zu lesen. Florence Welch, die junge Londoner Sängerin mit der roten Mähne und dem extravaganten Fashion-Sinn, fährt fort: „Oder eher der Idee, irgendwo herunterzuspringen und eingehüllt zu werden von irgendetwas, egal, ob gut oder schlecht, einfach nur eingehüllt.“ So verwundert es nicht, dass sich das Thema des Ertrinkens wie ein morbider Faden durch Ceremonials (Universal) zieht: Im Stück „Never Let Me Go“ ist von den „arms of the ocean, so sweet and so cold“ die Rede, „What The Water Gave Me“ scheint vom Wasser-Selbstmord der Virginia Woolf beeinflusst. Das passt zum theatralischen und immer auch etwas düster-opulenten Bühnen-Image der Tochter einer Renaissance-Studies-Professorin, und es passt auch zur fotografischen Selbstinszenierung zwischen 20er-Jahre-Salondame und 60er-Jahre-Hippie-Free-Spirit – und nicht zuletzt auch zur Musik mit den bombastischen Backing-Chören, Klaviergehämmer und der ganz großen Retropop-Geste. Besonders subtil oder innovativ ist das nicht, und mit großen Überraschungen nach dem phänomenal erfolgreichen Debüt „Lungs“ (2009) wird auch nicht aufgewartet. Aber in der Liga, in der Welch mittlerweile mitspielt, ist das Einhüllen bzw. Erdrücken der Fans durch harmonischen Überwältigungssound und dräuende Apocalypse-Vocals vermutlich de rigeur.
Klanggewaltig geht es auch auf Boykiller (Clouds Hill) zu, dem ersten Album, das die Multiinstrumentalistin Tonia Reeh, die normalerweise unter ihrem Alias Monotekktoni schräge bis dichte Elektroniksounds veröffentlicht, unter ihrem bürgerlichen Namen herausbringt (siehe Interview mit Tonia Reeh in an.schläge 10/2011). Dabei verzichtet die Berlinerin weitestgehend auf alle musikalischen Hilfsmittel außer ihrer dunklen Stimme und ihrem versierten, einfühlsamen Klavierspiel. Nachdem die erste Verwunderung über diese unerwartete Wendung verflogen ist, sind die Ohren frei für das, worum es hier geht: eine neue Variante akustischer Popmusik, die mit Pop vielleicht sehr viel weniger zu tun hat als mit 1920er-Jahre-Liedtraditionen, Theatermusik, Broadway ohne Pathos und klassischer Moderne. „Boykiller“ wirkt dabei auf elegante Weise zeit- und ortlos, wobei auch die in den Texten verhandelten Themen mitunter traurige Konstanz beweisen, wie das Coverfoto der Künstlerin als servile, schwangere Hausfrau unter dem wütenden Albumtitel schon andeutet. Songs wie „Happy Knife“, „Histeric“ und „I Am A Monster“ weisen auf die Frustrationen hin, denen doppelt- und dreifach belastete Frauen heute nach wie vor ausgesetzt sind.
Dass die junge Musikerin Dillon, die in voller Länge auf den aristokratischen Namen Dominique Dillon de Byington hört und diesen für ihre Künstlerinnen-Existenz demokratischer Weise für uns Plebs abgekürzt hat, mit ihrem lang erwarteten Debüt-Album gerade auf dem Techno-Label Bpitch Control herauskommt, hätte man nun nicht erwartet. Aber die Musik auf This Silence Kills(Bpitch Control) will auch keine Erwartungen erfüllen und erst recht in keine Kategorien passen. Die von Thies Mynther (Phantom/Ghost, Stella) und Tamer Fahri Özgönenc (MIT) produzierte Platte der aus Brasilien nach Köln migrierten Dillon ist quirky Songwriting mit einer großen Liebe zu ungewöhnlichen Sounds wie Fingerschnipsen, Pfeifen, elektronischem Zirpen und dem berühmten „space between the notes“. Die beinahe zögerlich, aber doch mit großem Selbstbewusstsein herausgeschälten harmonischen Melodien werden mal unterstützt durch Dillons schmelzenden Gesang, dann wieder konterkariert durch ostentative Quetschungen ihrer Stimme und den interessant stolpernden Aussprache-Unregelmäßigkeiten.

Nach so viel songwriterischer Besinnlichkeit braucht es zum Schluss aber doch unbedingt noch einen Knaller. Der kommt zum Glück von tINI, die es von München nach Berlin gezogen hat und deren Debüt Tessa (Desolat/Wordandsound) zum Großteil auf Ibiza entstanden ist. Die Produzentin, die auch für ihre elektrifizierenden DJ Sets bekannt ist, begnügt sich hier aber nicht mit einer formelhaften House-Platte, sondern ist mit groovenden Tiefen, uncheesy Stimmsamples, viel Delay und wummernden Bassbeats eine echte Entdeckung.
Links:
http://florenceandthemachine.net
www.toniareeh.de
www.dillon-music.com
www.myspace.com/tinitier