In den 1990er-Jahren träumten Feminist:innen von einer Post-Gender-Welt im Internet. Heute zeigt sich: Die Hoffnung hat sich nicht erfüllt, im Gegenteil. Was braucht es für globale Technologiegerechtigkeit? Von Francesca Schmidt
Das Internet als feministischer Möglichkeitsraum – in den 1990er-Jahren war diese Vision noch mit Leben erfüllt. Mit dem Cyberfeminismus entstand eine Bewegung, die sich künstlerisch, aktivistisch und theoretisch mit digitalen Technologien auseinandersetzte. Heute, drei Jahrzehnte später, ist klar: Die großen Versprechen und Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Ganz im Gegenteil. Das Internet ist weder geschlechtsneutral noch hierarchiefrei. Es ist vielmehr ein Raum, in dem Diskriminierung algorithmisch verstärkt, globale Ausbeutung unsichtbar gemacht und Überwachung normalisiert wird. Was aber lässt sich aus der Geschichte des Cyberfeminismus lernen? Welche Impulse brauchen feministische Technikpolitiken heute?
Die Utopie der Entkörperlichung.
Der Begriff Cyberfeminismus tauchte 1991 auf, geprägt vom australischen Künstlerinnenkollektiv VNS Matrix: „We are the virus of the new world disorder / rupturing the symbolic from within / saboteurs of big daddy mainframe.“ Zentrale Bezugspunkte waren Donna Haraways Cyborg-Figur und Sadie Plants These vom Internet als inhärent weiblichem Raum, einem dezentralen, vielstimmigen, rhizomatisch-vernetztem System.
Die zentrale Idee vieler cyberfeministischer Ansätze war die vermeintliche Körperlosigkeit des Cyberspace. Wer online kommunizierte, so die Hoffnung, könnte Geschlecht, Hautfarbe und Herkunft hinter sich lassen, der materielle Körper mit all seinen gesellschaftlichen Einschreibungen werde irrelevant. Das Internet galt somit als Labor für neue Identitäten. Im deutschsprachigen Raum organisierte das Old Boys Network (OBN) ab 1997 cyberfeministische Konferenzen. Ihre „100 Anti-Thesen” definierten Cyberfeminismus bewusst durch Negation: „Cyberfeminism is not …“
Where is Feminism? Doch schon in den 1990er-Jahren wurden kritische Stimmen laut. Die feministische Künstlerin Faith Wilding fragte 1998 provokant: „Where is Feminism in Cyberfeminism?“ Sie kritisierte die Geschichtsvergessenheit der Bewegung und ihre naive Technikbegeisterung. Wilding machte deutlich, dass das Internet kein machtfreier Raum war. Es war historisch aus militärischen Zusammenhängen entstanden und strukturell in sexistische und rassistische Gesellschaften eingebettet. Die Hoffnung auf eine entkörperlichte, hierarchiefreie Kommunikation blendete aus, dass Zugang, Ressourcen und Repräsentation hochgradig ungleich verteilt waren.
Auch Sandy Stone warnte davor, den Körper im Cyberspace zu vergessen: Die Utopie der Entkörperlichung war vor allem ein Privileg jener, deren Körper nicht bereits im analogen Raum markiert und diskriminiert wurden.
Besonders problematisch: Der Cyberfeminismus der 1990er-Jahre war mehrheitlich weiß und westlich geprägt. Die Kategorie Race spielte kaum eine Rolle, globale Machtverhältnisse wurden ausgeblendet. Während weiße, privilegierte Feminist:innen von der Auflösung von Geschlechtergrenzen träumten, blieben die materiellen Bedingungen digitaler Technologie unsichtbar: Wer produzierte die Hardware? Wessen Arbeit ermöglichte die Infrastruktur? Kulturwissenschaftlerin Maria Fernandez etwa zeigte auf, wie Schwarze feministische Perspektiven im dominanten Cyberfeminismus marginalisiert blieben. Afrofuturistische Ansätze, die sich parallel mit Technologie, Identität und Zukunft auseinandersetzten, fanden hingegen kaum Beachtung.
Überwachungskapitalismus. Die Utopie der Post-Gender-Welt hat sich nicht realisiert. Im Gegenteil: Das Internet reproduziert Geschlechterhierarchien. Plattformen sind Schauplätze digitaler Gewalt gegen (BIPoC) Frauen, queere und trans Personen. Algorithmen diskriminieren systematisch entlang von Gender, Race und Klasse. Die vermeintliche Entkörperlichung erwies sich als Illusion: Körper sind im Netz sehr wohl von Gewicht, nur dass die Diskriminierung nun zusätzlich algorithmisch vermittelt wird.
Statt Dezentralisierung haben sich neue Gatekeeper etabliert. Wenige Tech-Konzerne kontrollieren die digitale Infrastruktur und bestimmen, was sichtbar wird, wer Zugang hat, welche Inhalte gelöscht werden. Der Überwachungskapitalismus macht aus Nutzer:innen Datenquellen. Geschlechtsspezifische Daten werden gesammelt, ausgewertet und monetarisiert, eine demokratische Kontrolle bleibt dabei aus.
Digitaler Kolonialismus. Was im Cyberfeminismus der 1990er-Jahre weitgehend ausgeblendet wurde, zeigt sich heute umso deutlicher: Digitale Technologie ist tief in globale Ausbeutungsstrukturen eingebettet. Der Abbau von Lithium, Kobalt und seltenen Erden findet unter katastrophalen Bedingungen in Regionen statt, die von kolonialen Kontinuitäten geprägt sind. Die Produktion von Hardware geschieht in Fabriken mit prekären Arbeitsverhältnissen, mehrheitlich durch feminisierte Arbeitskräfte.
Auch die vermeintlich immaterielle Arbeit des Internets basiert auf ausgelagerter, unsichtbarer Arbeit: Content-Moderation in Kenia oder auf den Philippinen, wo schlecht bezahlte Arbeiter:innen täglich traumatisierende Inhalte sichten müssen. Datenzentren verbrauchen enorme Mengen an Energie und Wasser, oft in ehemaligen Kolonien, in denen mehrheitlich Schwarze Menschen, indigene Communitys oder andere marginalisierte Gruppen leben. Aber die Rechenzentren stehen auch in den USA, was zeigt: Diese Ausbeutung findet nicht nur „anderswo“ statt, sondern auch in westlichen Demokratien. Die Profite fließen derweil an Tech-Konzerne, die ihre Sitze mehrheitlich in den USA haben. Digitaler Kolonialismus beschreibt diese Machtverhältnisse: Konzerne aus dem globalen Westen kontrollieren globale Kommunikationsinfrastrukturen und machen Profit aus Daten, Arbeit und Ressourcen.
Aus einer intersektionalen, queerfeministischen und rassismuskritischen Perspektive braucht es eine materialistische, machtkritische Auseinandersetzung mit Technologie und zugleich eine Vision, die über regulatorisches Klein-Klein hinausgeht.
TECHNOLOGIEGERECHTIGKEIT. Technologie muss als gestaltbar begriffen werden. Die Resignation, sie sei zu kompliziert, ist eine bequeme Ausrede. Feministische Netzpolitiken müssen von realen Bedürfnissen ausgehen, die bereits existieren, nicht von Bedürfnissen, die erst durch Technologie geschaffen werden, wie etwa permanente Selbstüberwachung durch Tracking-Systeme, die Kontrolle als Werkzeug zur Selbstoptimierung normalisiert. Das Wissen und die Erfahrung marginalisierter Menschen muss zentral sein, wenn diskriminierungsfreie, gewaltfreie Technologie entwickelt werden soll.
Infrastrukturen, digitale wie physische, von Plattformen über Algorithmen bis zu Unterseekabeln und Datenzentren, müssen als Commons, also als Gemeingut verstanden werden, und dürfen nicht länger das Privateigentum weniger Konzerne bleiben. Feministische Netzpolitiken bedeuten: für strukturell barrierefreien Zugang kämpfen, unabhängig von Wohnort, Einkommen oder rassistischer Diskriminierung. Es bedeutet, die Macht von Big Tech zu brechen.
Globale Technikgerechtigkeit statt digitalem Kolonialismus bedeutet, die materiellen Bedingungen sichtbar zu machen und zu ändern: Wer produziert unter welchen Bedingungen? Wer profitiert? Wessen Arbeit wird unsichtbar gemacht? Feministische Netzpolitiken müssen sich mit Fragen globaler Ausbeutung, Ressourcengerechtigkeit und postkolonialer Kontinuitäten auseinandersetzen.
Intervention statt Utopie. Der Cyberfeminismus der 1990er-Jahre erinnert daran, dass es einmal eine feministische Vision des Internets gab, auch wenn diese Vision ihre Leerstellen hatte. Heute geht es darum, aus ihren Fehlern zu lernen und feministische Technikpolitiken zu entwickeln, die materiell, intersektional, global und dekolonial denken. Politiken, die nicht darauf warten, dass Technologie Emanzipation bringt, sondern die Technologie als Terrain begreifen, um das gekämpft werden muss. Das Internet ist kein neutraler Raum und wird es nie sein. Aber es kann ein Raum werden, in dem Machtverhältnisse benannt, bekämpft und verändert werden. Dafür müssen wir aufhören, an technologische Lösungen zu glauben, die andere für uns entwickeln, und anfangen, für politische Veränderung zu kämpfen.
Francesca Schmidt engagiert sich für digitale Gerechtigkeit, feministische Netzpolitik, rassismuskritische Bildung und dekoloniale Perspektiven auf Technologie. Sie ist Mitglied von netzforma* e.V. – Verein für feministische Netzpolitik.