Unser Schulsystem verstärkt soziale Ungerechtigkeit, statt sie auszuhebeln. Höchste Zeit für einen Systemwechsel, findet Lehrerin Maria Lodjn.
Das erste Semester ist zu Ende. Kaum habe ich drei Schritte aus dem Schultor gemacht, halten mir vier SchülerIinnen ihre Schulnachricht unter die Nase. Soweit ich es ohne Brille erkennen kann, sind es gute Zeugnisse, und in den Gesichtern der Einzelnen spiegeln sich Stolz und Freude wider. Lediglich eine Schülerin erzählt mir, dass sie drei Nichtgenügend hat und gerade überlegt, wie sie das ihren Eltern beibringen soll. Sie wirkt bedrückt, hat allem Anschein nach Schwierigkeiten, die Euphorie der anderen nachzuempfinden. Diese Szene bestätigt mir wie schon so oft, dass die Anzahl derer, die tatsächlich „nicht wollen“, an meiner Mittelschule verschwindend klein ist. Wenn also die meisten tatsächlich in diesem System bestehen wollen, warum schaffen sie in weiterer Konsequenz nicht den von ihnen und ihren Eltern ersehnten Bildungsaufstieg? Die Antwort ist simpel. Bildungsgerechtigkeit ist in Österreich ein Schlagwort, mehr nicht.
Danijela. Nachdem ich mich aus der Schüler*innentraube gelöst habe und ein paar Schritte weitergehe, stupst mich Danijela zaghaft an. „Ich hab alles Einser. Eh immer schon, auch in der Volksschule“, sagt sie. Obwohl ich diese Frage nicht stellen will, schießt sie aus mir heraus. „Warum gehst du eigentlich nicht ins Gymnasium?“ Kaum habe ich es ausgesprochen, verfluche ich mich. Weil ich mit dieser Frage Danijelas Zeugnis abwerte. Weil diese frühe Selektion auch in mir Spuren hinterlassen hat. Weil ich weiß und spüre, dass die Mittelschule trotz vieler kosmetischer Korrekturen immer noch nur die Mittelschule ist. „Wäre zu stressig. Meine Brüder hatten ja auch immer gute Noten und waren hier an der Schule“, erklärt sie lapidar und wünscht mir schöne Ferien. „Zu stressig“ steht als Synonym dafür, dass sich weder Danijela noch ihre Eltern das Abenteuer Gymnasium zutrauen. Aladin El-Mafaalani bezeichnet in seinem Buch „Mythos Bildung“ diese Haltung als den primären Herkunftseffekt. Eltern, die nicht selbst im Gymnasium waren, entscheiden sich trotz AHS-Empfehlung der Volksschullehrer*innen oft für den Besuch einer Mittelschule. Es dominiert die Angst, ihr Kind nicht so unterstützen zu können, wie es vom System Schule in Österreich erwartet wird. Wer sollte mit dem Kind dann z. B. Mathe üben? Schließlich waren sie, die Eltern, nicht im Gymnasium und können daher die stille Grundvoraussetzung der elterlichen Mitarbeit nicht erfüllen. Aber auch die finanzielle Situation spielt eine Rolle. Würden sich die Eltern Nachhilfe leisten können? Wer soll teure Auslandsreisen, Skikurse, Projektwochen und das Schulmaterial bezahlen? Das Nach-unten-Abweichen ist nachvollziehbar. Dieses Phänomen wird von Arbeiter*innenfamilien laut El-Mafaalani weitaus öfter praktiziert als in Akademiker*innenfamilien. Bei Letzteren überwiegt die Einstellung, dass man alles mobilisieren wird, was es zum Überstieg ins oder zum Verbleib am Gymnasium braucht.
Aber auch in der Mittelschule wird das schulische Versagen des Nachwuchses den Eltern, im Speziellen den Müttern, zur Last gelegt.
„Dann muss sich die Mutter mit dem Kind hinsetzen und üben.“ Solche Aussagen höre ich fast täglich.
„Kein Wunder, dass XY in der Schule nicht klarkommt. Die Mutter ist völlig unfähig.“
„Die Mutter ist ja ohnehin nur zu Hause. Wieso lernt die nicht mit dem Kind?“
Das System Schule gibt die Verantwortung für Misserfolge an Kinder und deren Mütter ab.
Milena. Milena ist das jüngste Kind einer Großfamilie. Die meisten ihrer Geschwister sind an meiner Schule gewesen. Bei Milena sollte alles anders werden. Bei ihr musste der Bildungsaufstieg gelingen. Keine Zweifel daran ließ ihr makelloses Zeugnis. Eine ihrer Schwestern, die ich unterrichte, war irre stolz auf sie. „Voll die Streberin, aber schon stabil“, erklärte Naila. Das war im Schuljahr 2020/21. Dann kam wieder einmal ein Lockdown. Milena konnte in dieser Zeit nicht mithalten, verlor sich und den Anschluss. Schon vor den großen Ferien erzählte mir Naila, dass Milena zwei Nichtgenügend im Zeugnis hatte. Dass es urschwer dort sei und niemand helfen könne. Seit diesem Schuljahr besucht Milena eine Mittelschule. Neulich hat die jetzige Klassenvorständin die Eltern angerufen und gesagt, dass Milena definitiv aufs Gymnasium gehört. „Wissen Sie, Frau Lodjn, die im Gymnasium waren auch nicht sehr höflich zu ihr und meinen Eltern“, berichtet mir Naila.
Die Eltern müssen, so die Erwartungshaltung, verdammt dankbar sein, dass das „migrantische Kind“ auf ein Gymnasium gehen darf. Fordern oder nachfragen kommt da ganz schlecht an. Im besten Fall dürfen sich die Eltern noch anhören, dass dieses Kind sich schon bitte doppelt anstrengen muss.
Milenas vermeintliches Versagen basiert auf einem Systemversagen. Während der diversen Lockdowns waren Kinder, die wenig Unterstützung von zu Hause hatten, mehr oder weniger auf sich allein gestellt. Corona hat die ohnehin bestehenden sozialen Ungleichheiten bei Kindern mit Migrationsbiografie weiter verstärkt.
Ayse. Ayse erfüllte alle Klischees der typischen Mittelschülerin. Aus der Volksschule hatte sie ein Zeugnis mit drei Vieren in Mathematik, Deutsch und Sachunterricht mitgebracht. Wenn im Mai die neuen Schülerinnen auf dem Papier den Klassen zugeordnet werden, verleihen Kolleginnen jenen mit mindestens zwei Vieren das Prädikat dumm, faul und/oder schwach. Mit dieser Last, von der Ayse nichts wissen konnte, begann ihre Laufbahn an der Mittelschule. Niemand fragte sich, was die Ursache dieser Zensuren war. Typisch für einen Großteil der Lehrer*innen, wie auch El-Mafaalani schreibt. Man ist blind für die sozialen Rahmenbedingungen, aber nicht für deren Folgen. Ich habe und hatte das Glück, Ayse wachsen zu sehen. Sie ist ein empathisches, kluges und extrem reflektiertes Mädchen. Sie ist eine der wunderbarsten Schüler*innen, die mir jemals begegnet sind. Und sie hat blitzschnell durchschaut, dass sie von Kolleg*innen für schwach gehalten wird und wurde. „Frau Lodjn, glauben Sie wirklich, dass ich schwach bin? Ehrlich, ich habe meine ganze Familie zum Impfen überredet. Sie sind nur geimpft, weil ich als Erste dort war. Ist das schwach oder stark?“ Diese Frage stellt sie, als wir im Schulhof Zeit zum Plaudern haben. In unserem ungerechten Bildungssystem steht Ayse auf der Verlierer*innenseite, weil auch sie eine Migrationsbiografie hat und ein Mädchen ist.
Gender Gap. Mädchen sind von den Ungerechtigkeiten des Bildungssystems wesentlich stärker betroffen als Jungen. Jungen wird ein Bildungsaufstieg eher zugetraut. Sollte es nichts mit dem Aufstieg werden, dann können sie zur Not in den immer noch besser bezahlten, männlich dominierten Berufen Fuß fassen. Auch im Kollegium, wo der Frauenanteil hoch ist und sich so manche den Begriff Feministin auf ihre Fahnen schreiben, werden immer noch starke Jungs gebraucht, die die Kartons mit Schulbüchern durchs Schulhaus schleppen. Beim Aufbau eines Beamers werden die männlichen Klassenkollegen angesprochen. Der Werklehrer baut mit den Buben ein Regalsystem für den Werkraum, während die Mädchen Laubsägearbeiten anmalen.
Die sozialen Ungleichheiten, die von unserem Schulsystem erwiesenermaßen verstärkt werden, treffen Mädchen und junge Frauen mit doppelter Härte. Sollte in den nächsten Jahren wider Erwarten Bildungsgerechtigkeit keine leere Worthülse bleiben, dann muss dieser Aspekt zwingend berücksichtigt werden. Danijela, Ayse und Milena, die stellvertretend für eine Generation Mädchen stehen, haben sich jede Menge Aufmerksamkeit verdient. •
Maria Lodjn unterrichtet seit fast 30 Jahren an unterschiedlichen Mittelschulen in Wien. Neben ihrer Tätigkeit als Lehrerin ist sie freie Autorin und Theaterpädagogin.