Der Kapitalismus wirkt zerstörerisch, auf globaler wie auf persönlicher Ebene, urteilen die Soziologin SASKIA SASSEN und die Karriereverweigererin ALIX FAßMANN. LEA SUSEMICHEL traf beide beim „Kapitalismustribunal“ in Wien.
an.schläge: Mit dem Tribunal machen Sie dem Kapitalismus als Verbrechen den Prozess – ein kurzer wird es vermutlich nicht werden.
Alix Faßmann: Nein, das wird er nicht (lacht). Wir stellen die provokante Frage: Ist der Kapitalismus ein Verbrechen? Das ist natürlich ein sehr komplexes Thema.
Die Idee zum Kapitalismustribunal kam vom Verein Haus Bartleby, dem Zentrum für Karriereverweigerung in Berlin, einem Zusammenschluss von unterschiedlichsten Menschen, die sich alle aufgrund ihrer Kritik an der derzeitigen Arbeitswelt dazu entschieden haben, ihre Karriere zu verweigern. Das Ergebnis des Tribunals soll eine Deklaration sein, was in einer zukünftigen Ökonomie nie mehr geschehen darf.
Saskia Sassen, Sie schreiben in Ihrem neuen Buch, es reiche angesichts des gegenwärtigen Finanzmarktkapitalismus nicht länger aus, von Ungleichheit zu sprechen, Sie plädieren stattdessen für den Begriff „Ausgrenzungen“. Worin genau besteht für Sie die Steigerung?
Saskia Sassen: Inzwischen geht es beim Kapitalismus um Zerstörung. Früher war Massenkonsum das dominante kapitalistische Prinzip: Egal ob jemand Eis oder Kredite verkauft hat, sein Hauptinteresse bestand darin, dass es den Kindern mal besser geht, denn für das eigene Geschäft und die eigene Expansion war die nächste Generation wichtig. Deshalb war auch die Regierung angehalten, den Konsum anzukurbeln, es gab Geld für Bildung, Gesundheit und Unterstützung beim Kauf eines Eigenheims. Heute hingegen ist die Ausbeutung die vorherrschende Logik. Du nimmst, du bist fertig damit, du gehst. Wie beim Bergbau, bei der Ausbeutung von Bodenschätzen – zurück bleibt totes Land, totes Wasser. Auch der Finanzmarktkapitalismus ist ausbeuterisch und zerstörerisch. Menschen verarmen in Massen und können deshalb auch nicht mehr konsumieren, doch das ist für die dominante Logik nicht länger relevant. Diese Selbstzerstörung vollzieht sich auch auf unserem Planeten. Kapitalistische Ausbeutung vernichtet unseren Lebensraum, durch Raubbau bei der Gewinnung von Bodenschätzen entstehen z. B. Wüsten, in denen kein Leben mehr möglich ist. Es gibt also ganz konkret weniger Lebensraum für Menschen, was zu großen Fluchtbewegungen führt.
Welche Rolle spielen dabei die „Global Cities“?
Sassen: Alle großen Städte sehen schöner aus denn je. Diese sichtbare, materielle Ordnung erzählt das Märchen, alles sei besser geworden. Aber tatsächlich ist alles schlechter geworden, doch diese Verschlechterung ist unsichtbar. Was wir sehen, sind die zwanzig Prozent, die reicher sind, als sie es je für möglich gehalten haben, das zeigt sich auch in den Städten. Und diese zwanzig Prozent demonstrieren, dass der Kapitalismus scheinbar funktioniert. Viele gehen durch die Straßen und denken sich: „Oh mein Gott, für viele Leute ist vieles besser! Die haben es richtig gemacht, wir nicht.“ Doch tatsächlich gibt es einfach nur Platz für zwanzig Prozent, weil die anderen guten Arbeitsplätze verschwunden sind.
Es wird nicht nur das zerstörte Land unsichtbar gemacht, sondern auch Menschen, die anderen achtzig Prozent. Das geschieht auf unterschiedlichste Weise: Die Langzeitarbeitslosen verschwinden aus der Statistik, die Langzeitinhaftierten verschwinden in den Gefängnissen – buchstäblich übrigens!
Unlängst kam der Fall einer indigenen Frau an die Öffentlichkeit, die zwanzig Jahre lang im Gefängnis vergessen wurde. Und auch bei den vertriebenen Menschen auf der Flucht gibt es eine große Gruppe, die unsichtbar geworden ist: statistisch, begrifflich, empirisch. Die Frage ist: Wie können wir sie wieder sichtbar machen?
Sie sagen aber auch, dass Städte Orte sind, an denen die Machtlosen Geschichte schreiben können. Inwiefern?
Sassen: Die Grenzen verlaufen heutzutage nicht mehr an den Rändern des Empire, sondern mitten in den großen Städten. Ich definiere Grenzen als Zonen, in denen verschiedene Welten ohne feste Regeln aufeinandertreffen. Die heruntergekommenen, chaotischen Viertel unserer Städte sind die Orte, an denen die Stadt nicht vollständig kontrolliert werden kann, und deshalb sind es strategisch wichtige Orte für die Machtlosen.
Bei einem Tribunal geht es darum, etwas auch öffentlich moralisch zu verurteilen. Wieso gelingt das beim Kapitalismus so schwer, obwohl seine verheerenden Effekte längst so offenkundig sind?
Faßmann: Ich glaube, der Kapitalismus ist Meister darin, sich anzupassen. Und wir müssen dieser perfiden Strategie habhaft werden, mit der immer wieder Argumente gefunden werden, um etwas so Zerstörerisches und Ungerechtes zu rechtfertigen. Aber es gelingt dem Kapitalismus ja sogar, Argumente, die gegen ihn entwickelt werden, für sich zu verwenden. Das passiert auch in der Arbeitswelt, wo die Start-up-Szene als eine Alternative und Verbesserung gefeiert wird, obwohl die Arbeitsbedingungen dort alles andere als besser sind. Im Gegenteil, es wird aber einfach behauptet: „Hier tust du das, was du liebst, was du toll findest“, und alles ist jung, hip, angenehm und es gibt Gleitzeit – all das ist aber keine Verbesserung. Im Gegenteil, in der Regel ist es eine Prekarisierung, und die Gesetze begünstigen ja derzeit diese Form von totaler Verflüssigung.
Lässt sich das Kulturprekariat mit anderen Prekarisierten gleichsetzen? Und kann die Solidarisierung zwischen unterschiedlichen Gruppen tatsächlich funktionieren?
Faßmann: Diese Solidarität, die nicht unterscheidet zwischen Bildungsabschlüssen oder Berufen, ist die große Herausforderung. Im Haus Bartleby erleben wir jedoch von ganz unterschiedlichen Seiten Engagement und Interesse. Da sind die klassischen Kulturprekären wie Grafikdesigner, aber auch die Kassiererin im Bio-Supermarkt oder jemand wie mein Vater, der seit 37 Jahren Arbeiter bei Volkswagen ist und erlebt hat, wie massiv die Solidarität eingebrochen ist, noch stärker durch die Zeit- und LeiharbeiterInnen, die in den Konzernen eine parallele Arbeiterschaft bilden und gegeneinander ausgespielt werden.
Alle denken, es gehe um individuelle Fehler und man müsse sich einfach mehr anstrengen und dann komme auch der Erfolg. Das Versprechen von Wohlstand und Sicherheit wurde aber schon vor langer Zeit gebrochen, trotzdem sollen wir weiter daran glauben.
Kapitalismuskritik ist traditionell ein männliches Feld, wird beim Kapitalismustribunal auch feministische Kapitalismuskritik, zum Beispiel an Reproduktionsarbeit bzw. Care-Arbeit, berücksichtigt?
Faßmann: Es gibt viele Anklagen, die in diese Richtung gehen. Nichtsdestotrotz muss ich kritischerweise anmerken, dass Kapitalismuskritik in den feministischen Runden, zu denen ich bisher eingeladen war, eher auf wenig Resonanz gestoßen ist.
Karriereverweigerung muss man sich aber auch leisten können, oder? Viele Menschen haben gar keine Aussicht auf eine Karriere oder sie sind von Lohnarbeit einfach existenziell abhängig und haben zum Beispiel keine Aussicht auf ein Erbe.
Faßmann: Also ich habe auch nicht geerbt und konnte es mir damals nicht leisten, meine gut bezahlte Stelle zu kündigen. Aber ich wusste, ich musste es tun, und habe es auch bis heute nicht bereut, obwohl meine finanzielle Situation extraprekär war. Dass ich seit eineinhalb Jahren das Kapitalismustribunal unbezahlt mitorganisiere, macht es nicht besser. Trotzdem ist es das Lukrativste, was ich jemals gemacht habe. Wir sprechen mit Haus Bartleby nicht nur AkademikerInnenkinder an – ich bin ja selber keines – , sondern z. B. auch Langzeitarbeitslose, die sich so nach der ständigen Stigmatisierung beim Jobcenter auch ein Stück Würde zurückholen – weil sie eben Karriereverweigerer sind und keine Loser.
Karriereverweigerung ist aber auch gerade für Frauen eine sehr ambivalente Forderung.
Faßmann: Ja, weil es derzeit noch die Erzählung gibt, eine Karriere für Frauen müsste jetzt auch drin sein. Und niemand von uns würde infrage stellen, dass ein emanzipiertes und selbstbestimmtes Leben für Frauen wichtig ist – aber genau das ist in der heutigen Arbeitswelt eben kaum möglich.
Alix Faßmann ist Mitbegründerin des Berliner Vereins Haus Bartleby, Zentrum für Karriereverweigerung und Autorin von „Arbeit ist nicht unser Leben: Anleitung zur Karriereverweigerung“ (Lübbe Verlag).
Saskia Sassen ist eine US-amerikanische Soziologin und Ökonomin, die vor allem mit ihren Forschungen zu den „Global Cities“ bekannt wurde. Ihr neuestes Buch: „Ausgrenzungen. Brutalität und Komplexität in der globalen Wirtschaft“ (S. Fischer Verlag).
>> Beim Kapitalismustribunal soll die Frage der Schuld des Kapitalismus fair verhandelt werden. Jede/r konnte Anklagen gegen den Kapitalismus einbringen, die bei dem künstlerisch-aktivistischen Projekt gesammelt und nach Vorverhandlungen in Berlin nun auch bei einem einwöchigen Performance-Prozess im Wiener brut öffentlich beraten wurden. Die Urteilsverkündung wird im November erfolgen.