Für Menschen, die der Hochrisiko-Gruppe angehören, ist die Pandemie nicht vorbei. Sie fordern eine Maskenpflicht – was auch andere vor Long Covid schützen könnte. Von Anika Haider
„Die Pandemie ist vorbei“, verkündete US-Präsident Biden Ende September medienwirksam in einem Interview mit CBS News. Und auch österreichische und deutsche Regierungsmitglieder sprechen vermehrt über die Gegenwart als eine Zeit „nach Corona“, sagen Maskenpflicht und andere Maßnahmen sukzessive ab.
Die Überzeugung, dass wir die Sache hinter uns haben, scheint sich auch in der Mehrheitsbevölkerung durchgesetzt zu haben. Masken werden nur noch selten getragen. Dass die Pandemie ganz und gar nicht vorbei ist, wissen vor allem jene, die Corona von Anfang an besonders ernst nehmen mussten: jene Menschen nämlich, die aus unterschiedlichen Gründen der Hochrisiko-Gruppe angehören.
Unter dem Hashtag #NichtnurimHeim machen auf Twitter chronisch Kranke, Menschen mit Behinderungen und Angehörige von Mitgliedern der Risikogruppe – die sich eben nicht nur im Altersheim finden – darauf aufmerksam, dass die Pandemie keineswegs ein Ende genommen hat, wohl aber die Solidarität.
Keine Kraft zu husten. Eine von ihnen ist Veronika, die sowohl auf Twitter als auch in ihrem Blog ihre Erfahrungen teilt. Schon seit dem Kleinkindalter sitzt sie aufgrund einer angeborenen Muskelschwäche im Rollstuhl. Eine symptomatische Covid-Erkrankung wäre für sie lebensgefährlich, denn Veronika hat keine Kraft, um eigenständig zu husten.
„Beim Ausbruch der Pandemie war die Solidaritätswelle hoch. Da haben sich fast alle bemüht.“ Doch schon im Sommer 2020 begannen vermehrt Rufe laut zu werden, die Risikogruppe solle „zurückstecken“, man wolle nicht mehr so viel Rücksicht nehmen müssen. Veronika bekam das Gefühl, zu einer Gruppe zu gehören, „auf die viele Menschen auch verzichten könnten“.
Insbesondere auf Social Media ist Veronika ständig mit behindertenfeindlichen Diskriminierungen konfrontiert. „Den Hinweis, meine Eltern hätten mich „lieber verrecken lassen sollen“ bekomme ich mittlerweile ein- bis zweimal die Woche in mein Postfach gespült.“ Und das, obwohl Veronika selbst nie aggressive Anfeindungen gepostet hat.
Gemeinsamer Kampf. Die Möglichkeit, sich via Social Media zu Wort zu melden, möchte sie sich dennoch keinesfalls nehmen lassen. „Das ist der einzige Ort, wo ich noch sichtbar sein kann. Ich kann momentan nicht rausgehen und demonstrieren, ich kann mich nicht irgendwo anketten“, erklärt sie. „Aber ich kann versuchen, den wenigen Leuten, dich ich so erreichen kann, meine Geschichte zu erzählen.“ Das Internet ist für Veronika schon lange ein zweites Zuhause. „Und das ist das letzte, was ich noch verteidigen möchte.“ Auch aufgrund der Community, die Veronika auf Twitter gefunden hat, ist das Medium für sie so wichtig geworden. „Absolut beeindruckend“ sei die Vernetzung, die dort in den letzten Jahren zwischen Menschen mit verschiedenen Behinderungen und Erkrankungen passiert ist. Corona hätte viel mehr Zusammenhalt zwischen diesen Gruppen geschaffen. „Uns ist allen klar geworden, dass wir alleine nicht weiterkommen.“
Der Hashtag #NichtnurimHeim zeigt die Diversität der Gruppe. Appelle zur Solidarität, die dort geteilt werden, fordern zum Tragen von Masken auf. Für Veronika eine niederschwellige Maßnahme, die viel bringt. „Eine allgemeine Maskenpflicht wäre mein Wunschtraum.“ Von ihren Mitmenschen wünscht sie sich vor allem, „dass dieses Gejammer aufhört, nur weil man eine Maske tragen muss, während andere seit Jahren nicht mehr das Haus verlassen können.“ Menschen in der Risikogruppe seien alle bereit, selbst ganz massive Einschnitte in Kauf zu nehmen, erklärt sie. „Aber ganz ohne, dass andere auch mithelfen, geht es nicht.“
Long Covid kann alle treffen. Dass Vorsicht auch den Menschen außerhalb der Risikogruppe zugutekommt, zeigt sich insbesondere an der steigenden Zahl an Long-Covid-Patient*innen, die oft keinerlei Vorerkrankungen hatten. Das britische nationale Statistikinstitut geht davon aus, dass zehn bis zwanzig Prozent der Covid-Erkrankten betroffen sind. Eine davon ist Sandra, die früher Leistungssportlerin war und nun an schwerem Long Covid leidet. „Ich dachte immer, mich kann sowas nicht treffen. Ich bin ja gesund“, erzählt die ehemalige Football-Nationalspielerin. Doch insbesondere seit ihrer zweiten Infektion leidet Sandra unter starken körperlichen und auch psychischen Beeinträchtigungen. Müdigkeits- und Schwächeanfälle, Konzentrationsschwierigkeiten, der klassische Brain Fog – die Symptome kommen und gehen, so wie bei vielen anderen Long-Covid-Betroffenen, unvorhersehbar.
Neben den körperlichen Auswirkungen der Krankheit machen Sandra auch die finanziellen Folgen und der bürokratische Aufwand, den Long Covid mit sich bringt, sehr zu schaffen. Nur wenige Wochen nach dem Beginn der Symptome verlor sie ihren Job, weil die Dauer ihres Krankenstandes nicht absehbar war. Für den Bezug von Arbeitslosengeld muss sie nun regelmäßig das Fortbestehen ihrer Krankheit nachweisen und sich immer wieder rechtfertigen. Von medizinischem Personal erlebte sie regelmäßig Schikanen, ihre Symptome wurden lange nicht ernst genommen, Long Covid als Diagnose erst spät anerkannt. Auch die Reha, die Sandra nach langer Prozedur von der Krankenkassa bewilligt bekommen hat, war eigentlich auf eine Therapie von Depression ausgerichtet „Das war völlig kontraproduktiv“, erzählt Sandra. „Ich musste jedes Mal darum kämpfen, eine Pause machen zu dürfen, obwohl ich permanent erschöpft war.“ Bei Long Covid könnten sich durch Überforderung auch Ermüdungserscheinungen chronifizieren.
Sandra wünscht sich vor allem, dass Long Covid gesellschaftlich als Krankheit anerkannt wird. Gerade bei Behörden und medizinischen Einrichtungen sei das oft noch nicht der Fall. Es brauche unbedingt ausreichend und bessere Therapiemöglichkeiten. Long Covid sei als gesamtgesellschaftliches Problem aber auch auf politischer Ebene zu lösen: „Wenn sich der Staat nicht damit beschäftigt, wird es eine Welle an Menschen geben, die chronisch krank sind und keine staatliche Unterstützung erfahren.“
Mit den gesamtgesellschaftlichen Folgen von Corona setzt sich auch die Public Health Expertin und Mitgründerin der Initiative Gesundes Österreich (IGÖ), Beatriz Villegas Sierra, auseinander. Zusammen mit anderen Expert*innen und Beschäftigten im Bildungsbereich rief sie mit der IGÖ ein Projekt ins Leben, das sich vorrangig um Aufklärung über Corona, seine Folgen und potenzielle Maßnahmen bemüht.
Praktische Eigenverantwortung. Die fehlenden Informationen in der Bevölkerung seien vor allem ein Versagen der Politik. „Wir wollen Menschen zum eigenständigen Denken und verantwortungsvollen Handeln bringen. Doch wir fordern auch von der Politik ein, uns bei dieser Aufgabe, nach monatelanger systematischer Desinformation, zu unterstützen.“ Die Pandemie werde von der Regierung nicht ernst genommen, das geringe Ausmaß an aufrechten Maßnahmen sei verantwortungslos. Auch das Narrativ der „Eigenverantwortung“ kritisiert Villegas Sierra vehement, diese Strategie sei nämlich vor allem „praktisch für die Politik, um sich selbst aus der Verantwortung zu ziehen“. Besonders dramatisch ist es Villegas Sierra zufolge, dass Long Covid und andere Folgeschäden im Diskurs weitgehend ausgeblendet würden. „Tausende chronisch kranke Menschen zusätzlich werden in Zukunft nicht im System versorgt werden können. Das System ist jetzt schon am Anschlag, es kracht an allen Ecken und Enden“, warnt sie. Hoffnung auf eine Herdenimmunität darf man sich laut Villegas Sierra nicht machen, auch die Forderung, Vulnerable „wegzusperren“, sei abwegig: „Das kann gar nicht funktionieren, zumal Vulnerable in allen Altersklassen vertreten, Teil unserer Familien und Teil unserer Gesellschaft sind.“
Auch Sierra bekräftigt: „Das Allerschlimmste an dieser Pandemie ist jedoch, dass die Solidarität verloren gegangen ist.“ Doch auch das sei vorrangig ein Thema der Politik. „Wenn es ein Gesundheitsminister nicht schafft, zu sagen: „Denken wir bitte an unsere vulnerablen Mitbürger*innen“, dann sei das erschreckend und „geht am Kern seiner Aufgabe gänzlich vorbei“.
Die Hoffnung, dass sich die Solidarität noch durchsetzen könnte, hat zumindest Veronika noch nicht aufgegeben. „Ich denke, unsere einzige Chance ist es, den Leuten unsere Geschichten zu erzählen. Die sachliche Ebene, Statistiken, der Appell an die Vernunft, das interessiert niemanden. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem die Gesellschaft verstehen muss, um wen und um was es geht. Und das sind konkrete Schicksale.“ •
Anika Haider möchte mit ihrer journalistischen Arbeit dazu beitragen, Stimmen Gehör zu verschaffen, die oft überhört werden.