Die Gewalt wirkt im Kapitalismus nicht nur strukturell, sondern oft auch ganz roh und direkt gegen Menschen, sagt die Politikwissenschaftlerin HEIDE GERSTENBERGER. Interview: LEA SUSEMICHEL
an.schläge: Sie forschen zu Kapitalismus und Gewalt. Wodurch zeichnet sich die kapitalistische Gewalt aus, die strukturell wirkt, im Unterschied zu direkter Gewalt gegen Menschen?
Heide Gerstenberger: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: 1995 wurde in der Welthandelsorganisation (WTO) ein Abkommen durchgesetzt, demzufolge einzelne Länder jeweils nur eine bestimmte Quote an Textilien auf dem Weltmarkt anbieten durften. Daraufhin haben viele chinesische Unternehmen Fabriken in anderen Ländern errichtet. Als dieses Abkommen im Jahr 2004 auslief, wurden sehr viele Fabriken in Afrika und in Mexiko wieder geschlossen. Allein in Lesotho sollen damals 12.000 Menschen, die meisten von ihnen Frauen, ihren Arbeitsplatz verloren haben. Für sie und ihre Familien bedeutete die Rückverlagerung der Produktion nach China ein lebensbedrohliches Verhängnis. Es war aber nicht die Folge von Gewalt, sondern die einer legalen betriebswirtschaftlichen Praxis: kapitalistischer Alltag also.
Sie gehen in Ihrem neuen Buch auch auf Formen direkter Gewalt ein. Eine einflussreiche Theorie besagt, dass der Kapitalismus inzwischen nicht mehr zu direkter Gewalt gegen Menschen greift, weil dies ökonomisch letztlich unsinnig wäre. Sie widersprechen dieser These. Inwiefern? Und was wäre ein aktuelles Beispiel für diese direkte Gewalt?
Ein Beispiel ist das Leiden jener jungen Mädchen in Indien, für die der Ausdruck „glückliche Bräute“ (Sumagali) heute offiziell nicht mehr benutzt werden darf, obwohl sich an den Verhältnissen kaum etwas geändert hat. Sumagali landen als Arbeitskräfte in Spinnereien, die an Textilfirmen in Indien, Bangladesch, China oder Kambodscha liefern. Angeheuert werden sie von Werbern, die – vorzugsweise in entlegenen Dörfern – mit Eltern einen Vertrag über den Arbeitseinsatz ihrer Töchter abschließen. Die Verträge laufen über drei bis vier Jahre, an deren Ende eine Lohnzahlung versprochen wird, die für eine Mitgift ausreichend sein soll, folglich für eine „glückliche Braut“. Wer sich verletzt oder erkrankt, wird sofort entlassen und erhält gar keinen Lohn, weil der Vertrag ja nicht zu Ende erfüllt wurde. Nahezu täglich wird in der Klinik von Tirupor, einer Stadt im südindischen Staat Tamil Nadu, die auch als T-Shirt-City bezeichnet wird, ein junges Mädchen behandelt, das versucht hat, sich umzubringen, indem es Gift schluckte, sich mit Benzin übergoss oder sich erhängte. Zuvor musste dieses Mädchen lange Stunden täglich arbeiten, Erniedrigung sowie sexuelle Übergriffe erdulden und durfte kaum je das Lager verlassen. Sie war einer Sklaverei auf Zeit ausgesetzt, und damit einer Art der Ausbeutung, von der sowohl die BefürworterInnen als auch die GegnerInnen des Kapitalismus der Ansicht sind, dass sie aussterben muss, weil sie sich angeblich nicht rechnet. Da die jungen Mädchen aber extrem ausgebeutet werden, rechnen sich die Ausgaben für Baracken, Zäune und Aufseher sehr wohl. Auch in Indien sind derartige Praktiken verboten. Weil sie profitabel sind, dauern sie jedoch an. Ähnliche Verhältnisse gibt es an sehr vielen Orten und in sehr vielen Ländern.
Ein CNN-Bericht über Sklaven-Auktionen in Libyen hat vergangenen November die ganze Welt geschockt. Doch Ihrer Meinung nach wurde Sklaverei nie wirklich abgeschafft.
Wenn Arbeitskräfte durch Täuschung oder auch mittels Androhung oder Ausübung von Gewalt zur Aufnahme einer bestimmten Tätigkeit gebracht und dann daran gehindert werden, diese von sich aus wieder aufzugeben, so handelt es sich um eine Praxis direkter Gewalt, wie es sie im Kapitalismus durchgängig gab. Und durchgängig waren und sind auch jene Methoden, bei denen Arbeitskräfte während der Dauer ihrer Arbeitstage an ihrem Arbeitsplatz festgehalten werden. Nach wie vor kommen Zäune, vergitterte Fenster, verriegelte Türen oder auch bewaffnetes Aufsichtspersonal zum Einsatz. Dagegen ist der regelrechte Kauf von Arbeitskräften heute selten, weil Kapital mobil ist, viele Menschen ihre Arbeitskraft sehr billig anbieten und Ersatz für wenig qualifizierte Arbeitskräfte leicht zu beschaffen ist. Sklaverei funktioniert heute ganz überwiegend „just in time“. Sie ist modernisiert, aber weiterhin vorhanden.
Sie zeigen in Ihrem Buch eindrücklich, dass neue Technologien auch zu rigoroser Ausbeutung genutzt werden.
Beim Menschenhandel wird Kommunikationstechnologie effizient eingesetzt. Das gilt für Erwachsene, die zu sexuellen Handlungen gezwungen werden, es gilt aber insbesondere auch für den Handel mit Kindern. Die Arbeitsgemeinschaft zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung (ECPAT) hat darauf verwiesen, dass die Routen und Methoden des Handels mit Kindern zum Zweck der sexuellen Ausbeutung ständig wechseln, ja manchmal sogar täglich verändert werden, um den Handel besser an die regionale Nachfrage anzupassen bzw. neue Gesetze und Verordnungen zu berücksichtigen.
Daneben gibt es heute auch Gewaltpraktiken, die durch neue technische Entwicklungen überhaupt erst möglich geworden sind. Dazu zählt nicht zuletzt der Handel mit Organen. Seit der Erfindung von Cyclosporin im Jahre 1978 ist das Risiko, dass ein implantiertes Organ abgestoßen wird, sehr viel geringer geworden. Das hat vielen die Chance auf zusätzliche Lebenszeit eröffnet, andere aber auch der Gefahr ausgesetzt, durch ökonomischen Druck (etwa von Kredithaien) zur Organspende veranlasst zu werden. In Indien wurden und werden vor allem Frauen überzeugt, eine Niere zu spenden, um auf diese Weise die Schulden ihrer Familie zu begleichen. Weil ihnen jedoch kaum jemals Nachsorge angeboten wird, ist ihre Arbeitsfähigkeit nach der Operation oft so stark eingeschränkt, dass die Familie schnell neue Schulden machen muss. Zugleich hat diese medizintechnische Entwicklung auch die Möglichkeit eröffnet, durch den Handel mit geraubten Organen von Verstorbenen, wenn nicht sogar Ermordeten, zu Geld zu kommen.
Weniger lebensgefährlich, aber dennoch gewaltsam erfolgt der Raub von Haaren. Einen Handel mit Haaren gibt es schon lange. Die entsprechenden Märkte wurden durch die Nachfrage nach Echthaarperücken auf der einen und die materielle Not derer, die sich entschlossen, auf einen Teil ihrer Haarpracht zu verzichten, auf der anderen Seite geprägt. Seit Ultraschalltechniken entwickelt wurden, welche die Verbindungsstellen von eigenem mit fremdem Haar so flach machen, dass sie nicht zu sehen sind, und sich diese verlängerten Haare auch färben und mit Dauerwellen behandeln lassen, ist der Handel mit Haaren so lukrativ geworden, dass sich inzwischen auch Banden gebildet haben, die auf den Raub von Haaren spezialisiert sind. Seither müssen Frauen in manchen Staaten Südamerikas, in den USA und in China befürchten, dass sie auf der Straße überfallen und ihrer Haare beraubt werden. 2011 sollen aus den USA Haare im Wert von 1,3 Millionen US-Dollar exportiert worden sein. Ebenso wie beim Raub von Organen handelt es sich beim Raub von Haaren um eine Ausweitung des Bereichs der Warenwelt.
Sozialwissenschaftliche Theorien gehen im Anschluss an Antonio Gramscis Hegemonietheorie davon aus, dass Menschen nicht mehr gewaltsam in die kapitalistische Ausbeutung gezwungen werden, sondern es wird stattdessen dafür gesorgt, dass sie einverstanden sind mit dem System und sich ihm vermeintlich freiwillig unterwerfen. Wie ist das mit Ihrer These vereinbar, wonach durchaus oft weiterhin direkte Gewalt zum Einsatz kommt?
Sofern Konsens nicht als Resultat von ideologischer Indoktrination, sondern von materieller Absicherung interpretiert wird, stimme ich dieser Analyse für metropole kapitalistische Gesellschaften zu. Offene direkte Gewalt gab und gibt es vor allem an den geografischen und sozialen Rändern dieser Gesellschaften. In zweierlei Hinsicht hat die Globalisierung des Kapitalismus die Bedeutung von Gewaltpraktiken allerdings verändert. Zum einen bedeutet Globalisierung, dass heutzutage auch Verhältnisse in weit entfernten Gegenden dem metropolen Kapitalismus zugerechnet werden müssen. Wenn in Bangladesch Arbeitskräfte in einer Textilfabrik ums Leben kommen, hat das auch mit den Verhältnissen in jenen Ländern zu tun, in denen die InvestorInnen für die Textilproduktion in Bangladesch ihren Firmensitz haben. Gleichzeitig bedeutet die Entwicklung sozialstaatlicher Absicherung in Ländern des metropolen Kapitalismus, dass ausländische Arbeitskräfte Gefahr laufen, besonders extrem ausgebeutet zu werden. Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter, Tagelöhner und Hausangestellte zählen vielerorts zu den besonders schutzlosen Arbeitskräften.
Sie sagen, die kapitalistische Gewalt wurde historisch nicht aus ökonomischem Eigennutz gebändigt, sondern immer nur durch sozialen und politischen Widerstand.
Seit 1919 die Internationale Arbeitsorganisation gegründet wurde, gibt es eine internationale Instanz, welche die Unterscheidung zwischen der im Kapitalismus legal zulässigen Ausbeutung und unzulässigen Zwangsverhältnissen in Übereinkommen festlegt. Durch die Ratifizierung dieser Abkommen übernehmen Nationalstaaten diese Bestimmungen in ihre eigenen Gesetze. Das garantiert jedoch nicht deren Durchsetzung. Folglich braucht es nationale und internationale Kampagnen, um Regierungen zu veranlassen, ihren vertraglich zugesicherten Verpflichtungen nachzukommen. Diese Kampagnen setzen jedoch eine genaue Kenntnis der Praktiken direkter Gewalt voraus. Um solche Informationen zu beschaffen, bringen viele Menschen nicht nur ihre Arbeitskraft ein, sondern riskieren vielfach auch ihre Freiheit und manchmal sogar ihr Leben. Eine der Möglichkeiten, sich an ihrem Kampf zu beteiligen, ist die nachdrücklich vorgebrachte Forderung, dass in den Stammländern von Unternehmen eine gesetzliche Verantwortung von Kapitaleignern für die Arbeitsverhältnisse aller ihrer Beschäftigten eingeführt wird – also auch der Beschäftigten in Betrieben, in denen die billige Arbeitskraft von Menschen in weit entfernten Ländern genutzt wird.
Heide Gerstenberger ist Sozialwissenschaftlerin. Sie hat an der Universität Bremen gelehrt. Zuletzt von ihr erschienen: Markt und Gewalt. Die Funktionsweise des historischen Kapitalismus, Westfälisches Dampfboot 2017.