Die indische Aktivistin ARUNA ROY sprach mit IRMI WUTSCHER über die Kontroverse rund um den Film „India’s Daughter“, Angriffe auf die Demokratie und die massiven Sparmaßnahmen der Regierung.
Im Dezember 2012 steigt in Neu-Delhi eine 23-jährige Studentin mit ihrem Freund nach einem Kinobesuch in einen Bus, um nach Hause zu fahren. Ihr Begleiter wird von sechs Männern mit einer Eisenstange bewusstlos geschlagen. Anschließend vergewaltigen die Männer die Frau so brutal, dass sie später an den Folgen stirbt. Indien ist seit dieser besonders brutalen Vergewaltigung immer wieder mit ähnlichen Fällen von sexueller Gewalt in den Schlagzeilen. In einer BBC-Dokumentation über den Fall bekommen einer der Täter und sein Anwalt viel Platz, ihre Meinung zu äußern – zum Beispiel sagen sie, die junge Frau habe nichts Anderes verdient, wenn sie abends ausgehe. Der ORF zeigte den Film.
an.schläge: „India’s Daughter“ wurde im indischen Fernsehen wegen „degradierender Aussagen“ über Frauen auf Anweisung des Innenministers nicht gezeigt. War das gerechtfertigt?
Aruna Roy: Eine Einschränkung der freien Meinungsäußerung ist nie gerechtfertigt – außer es wird grundsätzlich Hass verbreitet. Ich denke, die BBC hatte jedes Recht, diesen Film zu machen. Hinsichtlich des Inhalts: Für jede Frau ist es eine persönliche Tragödie, vergewaltigt zu werden. Und die Art und Weise, wie darüber geredet wird, hat mittlerweile voyeuristische Züge. Das ist ein Problem, das zweite Problem ist die Generalisierung, die auf individuelle Aussagen folgt und die es schwieriger macht, den Geschlechterkampf zu führen. Denn nicht alle Männer sind so und nicht alle indischen Frauen werden vergewaltigt. Auch wenn es eine hohe Zahl von Vergewaltigungen gibt – sie sollten gestoppt werden, und ich kämpfe dagegen –, ist es nicht gut, zu generalisieren. Die Aussagen im Film beeinflussen Väter, die ihren Töchtern verbieten werden, abends auszugehen. Mich betrifft das nicht, ich komme aus einer Familie, in der sich Frauen vor drei Generationen emanzipiert haben. Aber was ist mit der jungen indischen Frau, die sich gerade emanzipiert? Sie geht zur Schule, vielleicht sucht sie sich einen Mann aus, ohne ihre Eltern um Erlaubnis zu fragen, sie will Feministin sein, sie will
arbeiten – aber jetzt wird es von vielen konservativen Eltern Einschränkungen geben. Auch die glauben nicht, dass alle Männer so sind – aber sie haben Angst um ihre Kinder. Es ist also ein sehr komplexes Thema. Der Film hatte aber jedes Recht, gezeigt zu werden. Der Fehler der indischen Regierung war, ihn zu zensieren und somit für ihn zu werben.
Nach dem Mord gab es eine große soziale Bewegung – ich habe einige dieser Initiativen auf Facebook und Twitter verfolgt. Was machen all diese Initiativen jetzt?
Diese Vergewaltigung ist in Delhi zu einer Zeit passiert, in der sich gerade das Selbstbewusstsein einer neuen Generation von Frauen entwickelt hat. Danach gab es überall im Land spontane Demonstrationen. Aber das sind nur ein paar Prozent der Menschen in Indien. Menschen vom Land, die keinen Zugang zum Internet haben, bekämpfen Vergewaltigungen schon seit Jahren.
Haben Sie sich für diese Initiativen gegen Vergewaltigung oder für mehr Geschlechtergleichheit engagiert?
Die ersten großen Proteste gegen Vergewaltigungen fanden in meinem Bundesstaat, in Rajasthan, statt. Es gab den Fall von Bhanvari Devi, die 1992 Opfer einer Gruppenvergewaltigung wurde. Über alle Parteien und alle gesellschaftlichen Gruppen von Frauen hinweg haben wir uns zusammengetan, das war das erste große öffentliche Aufbegehren gegen Vergewaltigung. Wir hatten große Probleme mit den Gerichten. Aber wir haben gekämpft – für ein neues Vergewaltigungsgesetz, und wir haben ein besseres bekommen. Danach wurde in Rajasthan keine Vergewaltigung mehr vertuscht. Ich engagiere mich also schon sehr lange. Jetzt findet der Protest überall in Indien statt – auch wegen der sozialen Medien. Aber auch Bhanwari Devi war ein Fall, den in Indien alle Frauengruppen kannten.
Jetzt gibt es dieses neue Vergewaltigungsgesetz, das die Todesstrafe enthält. Wir halten das für keine gute Idee – denn wir sind generell gegen die Todesstrafe. Wir wollen bessere polizeiliche Maßnahmen, besseren Schutz. Es gibt auch Vergewaltigungen durch die Polizei und durch die Armee im Nordosten und in Kaschmir. Vergewaltigung ist eigentlich ein Ausdruck von Macht. Wir finden sie bei Ausschreitungen, wie 2002 in Gujarat, oder bei religiösen Zusammenstößen. Wir müssen also verstehen, dass es einen politischen Kontext gibt. Vergewaltigung und das Vorgehen dagegen ist ein Thema mit vielen Aspekten.
Der Schriftsteller Rana Dasgupta sagte in einem Interview, dass es Männern mit den enormen ökonomischen Entwicklungen, die Indien gerade durchmacht, schwerer fällt, sich auf die neuen Geschlechterrollen mit arbeitenden Frauen einzustellen.
Ich kenne keinen einzigen Fall, bei dem ein Mann eine Frau vergewaltigt hätte, weil sie einen Job hat. Ich beobachte allerdings eine steigende Frustration unter jungen Leuten in Indien. Mit der Liberalisierung der Wirtschaft zieht sich der Staat aus seiner Verpflichtung zurück, Jobs zu schaffen. Umgekehrt muss aber eine wachsende Zahl junger Männer und Frauen Kredite aufnehmen, denn der Staat hat auch die Bildungsausgaben gekürzt. Nach dem Abschluss müssen sie einen Job annehmen, um den Kredit zurückzuzahlen. An diesem Punkt haben wir in Indien ein großes Problem: Die Regierung stellt keine Beschäftigungsmöglichkeiten mehr zur Verfügung. Und kein Unternehmen wird alle diese Menschen aufnehmen. Unternehmen arbeiten profitorientiert, sie sind dem indischen Volk nicht verfassungsmäßig verpflichtet – das ist ihnen völlig egal! Frustration ist da. Aber sie richtet sich nicht gegen einzelne Frauen. Sie richtet sich gegen das System, das hier entsteht.
Über den neuen Präsidenten Narendra Modi hört man, dass er sehr wirtschaftsfreundlich ist – und dass seine Politik nicht sehr sozial ist.
Ich denke, die derzeitige Regierung hat gezeigt, wo ihre Präferenzen liegen. Wenn man aufs Land fährt, werden sie dort sagen, die Regierung sei „company raj“ – raj heißt Herrschaft, es gebe also eine Dominanz der Unternehmen. Allgemein ist man der Meinung, dass die Regierung unsozial ist und sich nicht für die Armen einsetzt. Das wurde jetzt durch das Budget bestätigt. Gelder im sozialen Sektor werden massiv gekürzt. Pensionen sind halbiert worden – es ist entsetzlich.
Ich habe auch gelesen, dass, weil Narendra Modi ein Hindu-Nationalist ist, Hindus noch mehr als zuvor die Wirtschaft dominieren.
Es stimmt, dass diese Partei immer eine Tendenz dazu hatte, hindu-nationalistisch zu sein, vor allem ein Teil der Partei, der RSS. (Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) ist eine radikal-hinduistische Kaderorganisation. Ihr wird vorgeworfen, Gewalt und Ausschreitungen gegenüber anderen Religionsgemeinschaften wie Christ_innen oder Muslim_innen zu schüren, Anm.) Modi ist seit Langem Mitglied beim RSS. Allerdings hat die Regierung keine offensichtlichen Aussagen gemacht, dass sie den RSS unterstützt.
Zuletzt gab es eine Kontroverse um ein Inserat der Regierung für den Tag der Republik am 26. Jänner – ein wichtiger Tag für Indien, an dem wir unsere Verfassung feiern. Als Hintergrund haben sie ein Bild der Präambel der Verfassung benutzt, in der allerdings zwei Wörter fehlten: sozialistisch und säkular. Es gab einen Aufschrei! Viele Inder_innen protestierten. Die Regierung erklärte: „Wir haben das Original verwendet, denn sozialistisch und säkular wurden erst später in einer Novelle eingefügt.“ Aber ob nun später eingefügt oder nicht – es ist Teil der aktuellen Präambel. Die Regierung versucht also, Bereiche anzugreifen, in denen Indien immer seine säkularen und sozialistischen Prinzipien aufrechterhalten hat. Aber es gibt genügend Stimmen in Indien, die protestieren.
Die indische Aktivistin Aruna Roy engagiert sich gegen Korruption und brachte ein Transparenzgesetz mit auf den Weg. Im März war sie auf Einladung der Frauensolidarität und des Instituts für die Wissenschaft vom Menschen in Wien zu Gast.
Übersetzung: Susanne Kimm
Dieses Interview ist auf Englisch auf fm4.orf.at erschienen.