Eine Initiative bringt in Berlin Alteingesessene und Refugees zusammen. JEANNA KRÖMER hat die „Neue Nachbarschaft“ besucht.
Berlin Moabit. Anfang November ist es schon früh dunkel. An der „Freundlichen Bäckerei“, dem Erotik-Kino, einer Fahrschule und der Kirche geht es vorbei, um zu dem Haus mit dem Logo im Schablonenstil zu gelangen: „Neue Nachbarschaft“ steht auf den großen Schaufenstern, die Einblick in einen großen, hell erleuchteten Raum gewähren, eine Bar für „neue“ und „alte“ BerlinerInnen, ein Treffpunkt für Geflüchtete und ihre FreundInnen.
Mitten im Kiez. „Früher haben wir an einem anderen Ort völlig unsichtbar gearbeitet. Nun sind wir mitten auf einer belebten Straße, wo die PassantInnen sehen, womit wir beschäftigt sind. Dadurch haben wir in der letzten Zeit schnell Zuwachs bekommen”, erzählt Marina Naprushkina, die Ideengeberin der Initiative. Sie ist eine Künstlerin, die sich bei sozialen und politischen Themen klar positioniert. In ihrem Heimatland Belarus wurde sie wegen ihrer Regierungskritik von der Staatsanwaltschaft angeklagt.
Seit 15 Jahren wohnt Marina mit ihrem Partner und einer Tochter in Berlin. Vor zwei Jahren hat sie die „Neue Nachbarschaft“ gegründet und widmet seither den Löwenanteil ihrer Zeit der Arbeit mit Refugees. Malkurs für Kinder, Sprachkurs für Erwachsene, Frauen zu ÄrztInnen begleiten, Dokumente ausfüllen, bei der Wohnungssuche helfen. All diese Erfahrungen sind nun in ihr soeben erschienenes Buch „Neue Heimat? Wie Flüchtlinge uns zu besseren Nachbarn machen“ geflossen. (1)
Gemeinsames Pauken. Marina betont, dass es eigentlich ein Buch über Frauen ist. Wenn man es liest, versteht man auch, warum. „Nur wenige wissen, dass die meisten Flüchtlinge 2013 aus der Russischen Föderation, vor allem aus Tschetschenien stammten. Wir haben mit unserer Arbeit angefangen, noch bevor so viele Flüchtlinge aus Syrien kamen“, berichtet Marina. Viele tschetschenische Männer leiden sehr stark unter ihrer neuen Situation in Deutschland. Die Frauen sind oft diejenigen, die für die Zukunft ihrer Kinder kämpfen, Neues lernen und trotz allem nicht aufgeben. In ihrem Buch geht es um den Alltag der Menschen, denen sie täglich begegnet, es zeigt den oft zermürbenden Kampf mit der deutschen Bürokratie.
Die „neuen” NachbarInnen der Bar kommen heute überwiegend aus Syrien, es gibt auch einige aus Kamerun, Afghanistan und Albanien. Ab 18 Uhr trifft man sich in der etwa vierhundert Quadratmeter großen ehemaligen Kegelbahn zum Deutschstammtisch. Auf den bunt zusammengestückelten Sofas und Sesseln sitzen Menschen, die sich entspannt und angeregt unterhalten. Eine junge Frau mit weißem Kopftuch geht hinter dem kleinen kraushaarigen Mädchen her, das neugierig von Tisch zu Tisch tapst. An der Theke rechts wird Tee getrunken. An der Wandtafel stehen noch Grammatikübungen auf Russisch, Deutsch und Arabisch. Alle Anwesenden tragen ein Namensschild auf der Brust: Vivi, Kathi, Diego, Mohsin, Elena, Fatema, Hannes …
Yoga und Foodsharing. Eine Treppe führt hinunter in den frisch renovierten Keller, auch hier stehen viele Tische und Stühle, alle sind besetzt. In einem Nebenraum, der sonst als Lager für Kleiderspenden dient, findet gerade eine Beratung statt. Die angehenden AnwältInnen und Jura-Studierenden der Initiative „Refugee Law Clinic Berlin“ unterstützen beim Briefwechsel mit den Behörden. Marina hat gerade Gruppen gebildet, abhängig von den Deutschkenntnissen. Ihre dunklen Haare sind kurz, sie ist eine energiegeladene, zierliche Person, jetzt steht sie hinter die Theke und bedient Gäste. Marinas Lebenspartner Udo erzählt stolz, dass sie morgen nach Wien zu einer Preisverleihung fahren wird.
Ruslan ist ein junger Mann mit, wie man das in Deutschland nennt, „Migrationshintergrund“. Mit seiner russisch-aserbaidschanischen Familie ist er mit sieben Jahren nach Deutschland gekommen und fühlt sich hier längst zu Hause. Anna ist Belarussin, sie hat in Polen studiert, dann die halbe Welt bereist, jetzt arbeitet sie als Projektmanagerin in Berlin und bietet in der „Neuen Nachbarschaft“ bald Yogakurse für Frauen an.
Über eine Foodsharing-Website ist gerade bekannt geworden, dass ein Laden in ihrer Nähe 33 Paletten vegetarischer Lebensmittel zu verschenken hat. „So viel brauchen wir nicht. Mit fünf Paletten können wir hier alle Anwesenden versorgen – das sind über 150 Menschen.“ Man entscheidet, zum Laden zu gehen und nachzuschauen, wie viele Paletten noch zur Verfügung stehen. Ruslan, Udo und Anna ziehen sich an und gehen los.
Freiwilligenarbeit. Der Unterricht ist zu Ende. Ab 20 Uhr wird die „Neue Nachbarschaft“ zu einer Bar mit Musik. Der junge Mann im schwarzen Hemd stellt sich als Monis (2) vor. Der aus Syrien stammende Gastronomiefachmann kommt schon seit zwei Jahren in diese Bar und mag das ruhige Ambiente: „Ich kann mich nicht erinnern, hier je betrunkene oder aggressive BesucherInnen erlebt zu haben.“ Nachdem die meisten TeilnehmerInnen des Deutschstammtisches den Raum verlassen haben, beginnt im Zimmer mit der Wandtafel eine Einführung für 13 neue HelferInnen, es sind fast gleich viele Frauen und Männer. Die meisten sehen nach Mitte zwanzig aus. Ruslan erklärt ihnen: „Wenn man einige Jahre in einer Notunterkunft verbringt, hat man von Deutschland und den Menschen hier nichts gesehen, man kennt nur die Behörden und die Leute aus dem Heim. So ist eine Integration einfach nicht möglich.“ In der Bar wird regelmäßig gemeinsam gekocht und gegessen. Die Menschen können die Küche ihres Landes vorstellen und etwas dazu erzählen. Das sei sehr wichtig, meint Ruslan, denn: „Wir wollen nicht, dass hier jemand als Helferin und der andere als Bedürftiger abgestempelt ist. Wir möchten, dass man den Menschen auf Augenhöhe begegnet. Wir sehen uns als Nachbarn.”
Eine der Neuen ist Monika, eine große, schlanke Frau mit einem lebhaften Blick. Sie selbst ist mit neun Jahren aus dem damaligen Jugoslawien nach Deutschland gekommen. Jetzt beschäftigt sie sich in Berlin mit Bauprojektkoordinierung und möchte in ihrer Freizeit als Volontärin der „Neuen Nachbarschaft” nützlich sein. Ihr wurden die beiden jungen Männer Ahmed und Massud zugewiesen, mit denen sie besprochen hat, was man am Wochenende unternehmen könnte. Sie musste auch direkt einige kulturelle Unterschiede erklären, meint Monika: „Meine Gesprächspartner haben mich zuerst für viel jünger gehalten und dann haben sie sich gewundert, dass ich mit 32 immer noch nicht verheiratet bin. Ich habe versucht ihnen zu erklären, dass es in einer großen Stadt normal ist, sich mit einer Ehe Zeit zu lassen.“
Katzen streicheln. Marina Naprushkina müsste eigentlich an ihrer Rede zur Preisverleihung arbeiten, aber es ist schon sehr spät und sie hat keine Energie mehr. Man sitzt gemeinsam in der Ecke auf einem Sofa vor einer brennenden Kerze und Marina erzählt Anna mit schlechtem Gewissen, dass sie heute nicht bei einer Schulveranstaltung ihrer Tochter dabei sein konnte.
Die Frage, ob man so spät überhaupt noch etwas essen sollte, taucht auf. „In Kamerun wird seltener gegessen, dafür sind die Gerichte viel schwerer. Trotzdem hatte Mary (2) anfangs oft Bauchschmerzen von unseren Lebensmitteln“, erinnert sich Marina. Mary ist eine junge Frau, die vor einigen Jahren noch minderjährig ohne Eltern aus Kamerun gekommen ist. Man kümmert sich hier deshalb besonders aufmerksam um sie. „Es wurde ganz anders gekocht und gegessen in ihrer Heimat”, erklärt Naprushkina. Außerdem gibt es in Kamerun den Aberglauben, Katzen verkörperten den Teufel. „Aber Mary traut sich mittlerweile sogar, unsere Katze zu streicheln”, schmunzelt Marina. Die Fenster von der „Neuen Nachbarschaft“ leuchten bis spät in die Nacht.
(1) Marina Naprushkina: Neue Heimat? Wie Flüchtlinge uns zu besseren Nachbarn machen. Europa Verlag 2015, 17,50 Euro
(2) Name geändert
Jeanna Krömer ist eine belarussische Journalistin, die in Berlin lebt und über Menschenrechte und Politik in Belarus, Ukraine und Russland schreibt. Kontakt: jakroemer@gmail.com
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