Das Rote Wien prägte mit seinen imposanten Gemeindebauten bis heute das Gesicht der Stadt. Aber auch die frauenpolitischen Ideen waren revolutionär. Von BRIGITTE THEIßL
In dicken, roten Lettern prangt ein Satz auf Häusern quer durch Wien: „Erbaut von der Gemeinde Wien in den Jahren … aus den Mitteln der Wohnbausteuer“. Stolz hat das Rote Wien sein ambitioniertestes Projekt auf den Fassaden des kommunalen Wohnbaus, den „Gemeindebauten“ verewigt. Mitthilfe der neu eingeführten, zweckgebundenen Wohnbausteuer schuf die sozialdemokratische Stadtregierung Wohnraum für Hunderttausende Wiener*innen in der Zwei-Millionen-Metropole und damit auch bessere Lebensbedingungen für Arbeiter*innen, die nach dem Ersten Weltkrieg vielfach in elenden Zuständen lebten.
„Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen“, so formulierte es Bürgermeister Karl Seitz 1930 bei der Eröffnung des Karl- Marx-Hofs, einem Vorzeigeobjekt des Roten Wiens, das vier Jahre später das Zentrum des Widerstands gegen den Austrofaschismus werden sollte. Der Wohnbau im bürgerlichen Döbling erstreckt sich über rund 1,2 Kilometer und ist damit die längste Wohnanlage der Welt. Vor der späteren Zusammenlegung kleinerer Wohnung bot der Karl-Marx-Hof 5000 Menschen Platz, denen im Gemeindebau u. a. auch Wäschereien, Kindergärten, Geschäfte und eine Zahnklinik zur Verfügung standen.
Vorbild Wien. Der kommunale Wohnbau prägte nicht nur das Gesicht der Stadt wesentlich mit, er spielt noch heute eine entscheidende sozialpolitische Rolle. Rund 62 Prozent der Wienerwinnen leben im Gemeindebau oder in geförderten Wohnungen, die Mieten dort liegen deutlich unter den Preisen privater Vermieter*innen. Angesichts explodierender Mieten quer durch europäische Großstädte blicken auch ausländische Politiker*innen und Journalist*innen vermehrt nach Wien. „Ein Paradies für Mieter“, titelte jüngst der „Tagesspiegel“, der „Sozialbauten schön wie Paläste“ in der österreichischen Hauptstadt entdeckt haben wollte.
Das große internationale Interesse für die Wiener Wohnpolitik kennt auch die Historikerin Marie-Noëlle Yazdanpanah, Teil des kuratorischen Teams der Ausstellung „Das Rote Wien“, die bis 19. Jänner im Wien Museum gezeigt wurde. Yazdanpanah hat dazu geforscht, wie Frauen im Roten Wien wohnten und welche frauenpolitischen Visionen die Vordenkerinnen späterer feministischer Bewegungen entwickelten.
Raus aus dem Elend. Das Rote Wien, jene Periode zwischen 1919 und 1934, als die sozialdemokratische Arbeiterpartei mit einer absoluten Mehrheit die Stadt regierte, war geprägt von einer Aufbruchsstimmung, das Rote Wien zugleich Utopie und ein „von seinen Gegnern heftig bekämpftes soziales, kulturelles und pädagogisches Reformprojekt“, wie im Text zur Ausstellung zu lesen ist. Umfassende Investitionen in die Gesundheitsversorgung, in Freizeiteinrichtungen und Schulen, aber auch in die Erwachsenenbildung, waren Teil des umfassenden Demokratisierungsprojekts. Dass der Fokus sich zunächst auf die Wohnungsfrage richtete, gründete in der fatalen Lage am Ende des Ersten Weltkriegs. Wohnungsnot, Inflation, Krankheiten wie die Tuberkulose hatten sich ausgebreitet, auch die Ernährungssituation war katastrophal. Erst 1917 wurde ein Mieter*innenschutz eingeführt, zuvor mussten Bewohner*innen in Geldnot innerhalb von zwei Wochen ihre Wohnung verlassen. „Während des Krieges war es für viele Frauen enorm schwierig, den Mietzins aufzutreiben, während ihre Männer an der Front waren“, sagt Yazdanpanah, die Folge waren 1913/14 rund 115.000 Delogierungen. Insbesondere Arbeiter*innen und andere Gruppen mit geringen finanziellen Mitteln wohnten vielfach in sogenannten Bassena-Wohnungen, die über kein fließendes Wasser verfügten. Deren Bewohner*innen teilten sich eine Toilette sowie das Waschbecken (Bassena) am Gang. Um die Miete für die ohnehin meist viel zu kleinen Räume zu finanzieren, kamen oft noch „Bettgeher“, die für eine geringe Gebühr in einem freien Bett schliefen und morgens die Wohnung wieder verließen.
Die arbeitende Frau. Möglichst schnell möglichst viel leistbaren Wohnraum für die Arbeiter*innenklasse zu schaffen, das war zunächst das Ziel der roten Stadtpolitik. Innerhalb nur eines Jahrzehnts entstanden rund 65.000 neue Wohnungen und sorgten für eine breite soziale Durchmischung in Wiens Bezirken. Ein niederschwelliger Zugang war jedoch nicht für alle gewährleistet. Zwar mussten die Mieter*innen keine österreichische Staatsbürgerschaft vorweisen, in Wien geborene Personen wurden jedoch bevorzugt, was insbesondere den jüdisch-galizischen Flüchtlingen den Einzug erschwerte. Auch Verheiratete erhielten mehr Punkte, Frauen wurden im Wohnbau überwiegend als Teil des Familienverbands gedacht. Dennoch spielten im Gemeindebau, der den Arbeiter*innen „Luft, Licht und Sonne“ bringen sollte, auch frauenpolitische Überlegungen eine Rolle, weiß Historikerin Yazdanpanah. Etwa: Wie können ledige, arbeitende Frauen wohnen? Obwohl sehr viele junge Frauen aus der Arbeiter*innenklasse einer Erwerbsarbeit nachgehen, ist ein Alleinwohnen von Frauen gesellschaftlich nicht anerkannt. Um 1930 wohnen zwei Drittel der ledigen, arbeitenden Frauen noch bei ihren Eltern, wie die Sozialwissenschaftlerin Käthe Leichter (siehe Superheroine S. 4) in einer Studie erhob. Eine der schon zuvor entwickelten Ideen, wie diese Frauen wohnen könnten, war das Einküchenhaus (siehe Seite 16), von dem in Wien zwei gebaut wurden. Nicht nur die Auslagerung der Hausarbeit war dabei revolutionär. Während in Ledigenheimen immer auch die Wahrung einer „Sittlichkeit“ von großer Bedeutung war, interessierte man sich dafür im Einküchenhaus kaum, so Yazdanpanah.
Rationalisierter Haushalt. Im Gemeindebau mit seinen zahlreichen Gemeinschaftseinrichtungen spielte der Rationalisierungsgedanke eine wichtige Rolle. Wie könne man Frauen, für die nach der Lohnarbeit der zweite Arbeitstag beginne, die Arbeit erleichtern? „Heute gehen dreißig Hausfrauen über dreißig Treppen und kaufen in dreißig verschiedenen Körben ein. Könnte man nicht einfach jeden Morgen einer Hausfrau das Amt des Einkaufes übertragen?“, fragte da die sozialdemokratische Politikerin Emmy Freundlich 1925 in der „Arbeiter Zeitung“. Im Gemeindebau sind es die großen Waschküchen mit modernen Geräten, die integrierten Kindergärten und gut durchdachte Küchen, die den Frauen Zeit ersparen sollen. Zeit, die aber nicht nur der Familie, sondern durchaus auch dem eigenen Vergnügen, der Bildung – und der Partei – gewidmet werden sollte. „Die lesende Frau in der Küche war zu dieser Zeit ein wichtiges Werbesujet für den Gemeindebau“, sagt Marie-Noëlle Yazdanpanah. Wie es mit der Beteiligung von Männern an der Hausarbeit und der Kindererziehung stand, wurde hingegen selbst von feministischen Denkerinnen kaum zum Thema gemacht. Und auch in den Räumlichkeiten der Gemeindebauten wurden Geschlechterrollen zum Teil einzementiert. So hatten zu den Waschküchen, die aus hygienischen Überlegungen streng überwacht wurden, ausschließlich Frauen Zugang, die Kontrolle führten hingegen Männer durch.
In die neuen Zeiten. Mit der Idee, dass der Lebensraum nicht an der eigenen Wohnungstür enden, sondern sich auch in den Gemeinschaftseinrichtungen und den großzügig gestalteten Höfen abspielen sollte, wagt der Gemeindebau auch einen Schritt über das Konzept der Kleinfamilie hinaus. „Wir dürfen aber nicht vergessen, dass Arbeiter*innen das Leben in der Kleinfamilie bis dahin großteils gar nicht kannten. Wer sich eine Zimmer- Küche-Kabinett-Wohnung mit Onkeln, Tanten, weiteren Untermieter* innen oder Bettgeher*innen teilte, für die war es eine Errungenschaft, nur mit Ehemann und Kindern zu wohnen“, sagt Yazdanpanah.
Nicht nur die Arbeitsbedingungen und die Wohnsituation, auch die Politisierung der Arbeiterinnen stellte indes eine zentrale Herausforderung dar für die feministischen Denkerinnen des Roten Wiens. Frauen, die nach Erlangen des Wahlrechts überwiegend konservativ, also christlich-sozial wählten, sollten für die sozialistischen Ideen gewonnen werden. Jene prägenden Vordenkerinnen, die mit dem aufziehenden Faschismus und dem folgenden Nazi-Regime lange Zeit in Vergessenheit geraten sollten, hinterließen Schriften, die sich auch heute noch erstaunlich aktuell lesen. Therese Schlesinger, die als eine der ersten Frauen für die Sozialdemokratie ins Parlament einzog, sparte nicht mit Kritik an der eigenen Partei, die sich zu wenig um die spezifischen Probleme der Frauen kümmere. „Als ein Wunder sollte es viel eher angesehen werden, dass es trotz alledem so viele Tausende klassenbewusster und eifrig tätiger Parteigenossinen gibt. Eine Frau, die, beladen mit Erwerbs- und Hausarbeit, (..) noch Zeit und Kraft aufzubringen vermag, um (..) ihrer gewerkschaftlichen oder politischen Organisation mitzuarbeiten, muss wirklich die höchste Bewunderung erregen“, schrieb sie 1921.