Wie geht 8. März in einem Land mit einer der höchsten Femizidraten der Welt? Anika Haider war am Internationalen Frauentag in Mexiko City unterwegs.
Violett gekleidete Frauen prägen das Straßenbild schon am Weg zum Platz des „Engels der Unabhängigkeit“, dem Startpunkt des diesjährigen Protestmarschs. Viele haben bunte Schilder oder Blumen dabei, ihre Gesichter sind mit Glitzer bemalt. Andere sind mit Spraydosen ausgestattet, tragen Masken und Skibrillen.
„Ich bin hier, weil ich lebe, und weil ich nicht weiß, wie lange noch“ oder „Wir kämpfen für die, die es nicht mehr können“ ist auf Plakaten zu lesen, auf Kreuzen die Namen von Angehörigen, die Opfer eines Femizids wurden. Den 8. März in Mexiko City prägt ein Narrativ: der Kampf ums Überleben.
Veränderung von unten. Elf Frauen werden in Mexiko täglich von ihren Partnern oder Ex-Partnern umgebracht. Die allermeisten dieser Femizide bleiben ohne Konsequenzen, werden seit Jahrzehnten institutionell mit Gleichgültigkeit behandelt. Auch der seit 2018 amtierende Präsident Andrés Manuel López Obrador veranlasste entgegen seiner Wahlversprechen keine wirksamen Maßnahmen gegen die steigenden Femizidraten. Immer wieder äußerte er sich verharmlosend oder realitätsverleugnend.
Das Vertrauen in Politik und System haben viele der Demonstrant*innen offensichtlich verloren. „Das Patriarchat wird nicht fallen, wir werden es niederreißen“, heißt es auf Plakaten. Der Konsens unter den 75.000 Demonstrierenden an diesem 8. März ist klar: Veränderung muss selbst in die Hand genommen werden. Auf ihrem Weg zum zentralen „Zócalo“-Platz schreien sie Parolen, singen, tanzen, trommeln. Dazwischen finden Performances statt, bei denen sich Frauen auf den Boden legen und ihre Umrisse aufgesprüht werden.
„So große Proteste wie in den letzten zwei Jahren gab es davor nicht“, erzählt Erin, die beim Kollektiv „Pandilla Violette“ aktiv ist. „Hier sieht man, wie viel Macht wir eigentlich haben. Es ist schön zu sehen, dass man in diesem Kampf nicht allein ist.“
Die „violette Bande“ arbeitet vor allem über Soziale Medien, wo Aufklärungsarbeit geleistet und Femizide öffentlich gemacht werden. „Es ist ja einfach zu sagen, dass in Mexiko jeden Tag elf Frauen umgebracht werden“, sagt Erin. „Wir möchten aufzeigen, dass das Menschen sind und nicht nur Zahlen. Und dass es alles andere als normal ist.“ Der Boom Sozialer Netzwerke während der Pandemie hat, so Erin, stark zur Informationsverbreitung beigetragen, auch die Kanäle ihres Kollektivs werden viel mehr genutzt als noch vor zwei Jahren. Die feministische Bewegung sei größer und diverser geworden und hat einiges erreicht: Abtreibungen wurden entkriminalisiert, Gesetze gegen sexuelle Gewalt verabschiedet, Menstruationsprodukte steuerbefreit.
Bittersüße Erfolge, findet Erin: „Wir bewegen uns immer noch in einer feindseligen Umgebung.“ Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt und Femizide stiegen nämlich weiter, für Opfer häuslicher Gewalt spitzte sich die Lage während der Pandemie zu. „Wir kämpfen auch konstant gegen ein politisches System, in dem diese Morde geduldet werden und das einen konservativen Präsidenten hat, dem die Menschenrechte in Wahrheit egal sind“, macht Erin ihrer Kritik an der politischen Führung Luft. „Regeln wie das Recht auf Abtreibung wurden nicht umgesetzt, weil die Politik das wollte, sondern weil Feministinnen wie wir jahrelang dafür gekämpft haben.“
Radikalisierungsschub. Je näher die Demonstrant*innen dem „Zócalo“-Platz kommen, desto radikaler zeigt sich der Protest. Wände werden mit Venussymbolen und Parolen besprüht, Scheiben eingeschlagen. In der Mitte eines Kreisverkehrs streckt eine metallene Frauensilhouette ihre Faust in die Luft – sie wurde wenige Tage zuvor von einem feministischen Kollektiv auf einem leeren Sockel installiert (leer, da die Statue von Christoph Kolumbus 2020 im Zuge von Antikolonialsierungsbewegungen entfernt wurde).
Begleitet wird der Demonstrationszug von hunderten fast ausschließlich weiblichen Polizist*innen. Einige von ihnen tragen Blumen, die sie als Zeichen der Anerkennung von Demonstrierenden überreicht bekommen haben. Doch das Verhältnis zwischen Demonstrant*innen und Polizei zeigt sich nicht überall so solidarisch. Zäune aus schweren Metallplatten umgeben Sehenswürdigkeiten und Regierungsgebäude in der Innenstadt. Auf der Straße, die Richtung Hauptplatz führt, wird einer davon durch die Menge getragen, das Haus dahinter mit feministischen Parolen besprüht.
Vor allem der Regierungssitz „Palacio Nacional“ ist Ziel vieler Protestierender. Hier wurde mit großen weißen Buchstaben „Mexiko Femizid“ auf den Zaun gesprüht. Die Protestierenden treten darauf ein, versuchen, ihn zu überwinden oder mit ausgerissenen Metallpfosten umzurammen. Die Polizist*innen dahinter antworten mit Pfefferspray.
Die feministische Bewegung in Mexiko hat in den letzten Jahren einen Radikalisierungsschub erfahren, der mit der „Glitzerrevolution“ im August 2019 begann. Dem Bekanntwerden eines sexuellen Übergriffs auf eine Jugendliche durch vier Polizisten folgten damals Großdemonstrationen. Bei einer davon wurde ein Sack rosa Glitzer auf einen Sicherheitsminister der Hauptstadt geworfen.
Die Proteste, die folgten, waren radikaler als zuvor und öfter durch zivilen Ungehorsam und Interventionen im öffentlichen Raum geprägt. Das Hinterlassen physischer Zeichen soll den Staat mit der Frage konfrontieren, was er für wichtiger hält: Wahrzeichen und Gebäude oder das Leben seiner Einwohnerinnen, so die Botschaft des Kollektivs „Restauradoras con Glitter“.
Weiterleben. Ein besonders invasives Projekt findet sich wenige Straßen vom Protestzentrum am Zócalo entfernt. Was einst das Büro der nationalen Menschenrechtskonvention war, nennt sich heute „Casa Okupa Kuba“ und ist seit September 2020 von einem feministischen Kollektiv des sogenannten „Bloque Negro“, also des „Schwarzen Blocks“ besetzt. Es dient als anarchistisches Zentrum und Zufluchtsort für Frauen und Kinder, die Opfer häuslicher Gewalt wurden.
Eine der Bewohner*innen ist Uve. Sie stammt aus der Stadt Juarez in Chihuahua, die in den 1990er-Jahren traurige Berühmtheit erlangte – hunderte Frauen jährlich wurden dort entführt und ermordet. „Wenn man in so einer Stadt aufwächst, weiß man einfach, dass sich in diesem Land etwas verändern muss“, erklärt Uve, warum sie sich dem Bloque Negro angeschlossen hat. „Ein Leben, in dem man keine Angst haben muss, umgebracht zu werden, weil man eine Frau ist – das ist alles, was wir möchten.“
Vor zwei Jahren wurden erstmals Schuldige der Morde in Juarez vor Gericht gestellt. Doch noch immer verschwinden in der Grenzstadt regelmäßig Frauen, und die Femizidrate im ganzen Land steigt ebenso wie Anzeigen häuslicher Gewalt und sexueller Übergriffe. „Wenn politische Maßnahmen nicht funktionieren, muss man anscheinend etwas anderes machen. Das hier ist etwas anderes“, erklärt Uve die Hausbesetzung. „Ich denke, wie radikal ein Protest sein muss, hängt von seinen Zielen ab. Unser Ziel ist unser Überleben.“ Bei ihren Aktionen gehe es nicht darum, Gewalt ausüben zu wollen, im Gegenteil: „Alle unsere Aktionen basieren auf einer tiefen Liebe zum Leben.“
Stärker im Kollektiv. Als Uve sich dem Bloque Negro anschloss, hatte sie nur wenige Erwartungen. „Das Einzige, was ich wusste, ist, dass es mir besser geht, wenn ich von anderen Frauen umgeben bin.“ Das Leben im Kollektiv helfe ihr, mit der schmerzvollen Realität umzugehen. „Hier kann man über seine Sorgen sprechen und sie gemeinsam konfrontieren.“
Vor allem möchten die Feminist*innen mit ihrer Besetzung jedoch ein Zeichen setzen. „Wir übernehmen den Platz, den politische Autoritäten einnehmen, die ihre Arbeit nicht machen. Das ist ein sehr starkes Symbol. Es bedeutet, dass die elitäre politische Klasse, die in diesem Land etabliert ist, gehen muss.“ Doch laut Uve herrscht in mexikanischen Medien Schweigen über die Besetzung. Nationale Nachrichten berichten kaum über Projekte wie dieses. „Wenn sie nicht darüber reden, existieren sie nicht.“ Dass die Politik sich für ihre Interessen einsetzen würde, glaubt Uve mittlerweile nicht mehr. Auf die Frage, was ihre Forderungen an die Regierung seien, antwortet sie: „Nichts. Man kann von denen nichts fordern.“ Die Politiker*innen seien nicht am Wohl der Bevölkerung interessiert, zu elitär sei die politische Klasse, fehlend die Verbindung zwischen Politik und Bevölkerung. „Wir wollen gar keine Regierung“, sagt sie lachend. Die Hoffnung hat Uve trotzdem nicht aufgegeben. „Sag deinen Leser*innen, dass wir Frauen in Mexiko uns wehren. Wir werden für unsere Leben kämpfen.“ •
Anika Haider hat in ganz Mexiko verschiedene feministische Bewegungen kennengelernt – ein unschlagbarer Kampfgeist und Solidaritätsgedanke eint sie alle.