Daniela Brodesser schreibt über ihr Leben als Armutsbetroffene und macht dabei sichtbar, dass Armut kein Schicksal ist, sondern politisch gemacht wird. Von Naomi Lobnig
Unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen, der im Frühjahr 2022 von Anni aka @Finkulasa ins Leben gerufen wurde, teilen Menschen, wie es für sie ist oder war, in Armut zu leben. Auch Daniela Brodessers Aktivismus begann auf Twitter: zuerst noch unter dem Pseudonym @grauemaus und später dann unter ihrem Klarnamen @danibrodesser. Mittlerweile folgen der Armutsaktivistin, Kolumnistin, Bankkauffrau und Mutter von vier Kindern mehrere tausende Menschen, sie wird für Interviews angefragt, hält Reden, nimmt an Konferenzen teil und ist längst zu einer wichtigen Stimme im Kampf gegen Armut geworden. Aktuelle Statistiken zu Armut sprechen für sich: 17 Prozent der Bevölkerung in Österreich, das sind konkret 1.519.000 Menschen, sind armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Angesichts der aktuellen Teuerungen, die Lebenserhaltungskosten in die Höhe getrieben haben, liegt die Zahl jener, die ihr Leben nicht mehr problemlos bestreiten können, jedoch deutlich höher.
Die Zahlen schockieren, aber Daniela Brodesser weiß, dass es vor allem persönliche Geschichten sind, die Menschen erreichen. In ihrem Buchdebüt „Armut“, das soeben in der essayistischen Sachbuchreihe „übermorgen“ bei Kremayr & Scheriau erschienen ist, erzählt Daniela Brodesser von ihrem Leben in einer „typischen Durchschnittsfamilie“ und wie sie aufgrund einer Folge von Ereignissen – Burnout, Jobverlust, Krankheitsfälle etc. – in die Armut gerutscht ist. „Vor sechs Jahren habe ich das Wort ‚armutsbetroffen‘ nie für uns verwendet. Das sind nicht wir. Nicht in dieser Schublade“, schreibt sie. „Bis ich offen sagen konnte, ‚Ja, ich bin armutsbetroffen‘, war es ein langer Prozess, der von vielen Höhen und Tiefen begleitet war, sehr viel Überwindung gekostet hat, aber auch damit zu tun hatte, zu lernen und zu begreifen, was soziale Ungleichheit ist.“ Daniela Brodesser macht deutlich, dass Armut ein systemisches Problem ist, indem sie ihr Einzelschicksal immer wieder in den größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen setzt. Armut kann alle betreffen. Trotzdem sind armutsbetroffene Menschen immer noch mit Vorurteilen, mit Stigmatisierung und Ausgrenzung konfrontiert. Das führt zu Scham, Isolation, sozialer Entfremdung, bis hin zu physischen und psychischen Erkrankungen wie Angststörungen und Depressionen. Armut macht also auch krank. Aus dem Teufelskreis aus Scham und Beschämung finden Menschen nur schwer wieder heraus. Daniela Brodesser hat all das selbst erlebt: von „gut gemeinten“ Ratschlägen seitens Nachbar*innen, über Pädagog*innen, die ihr vorhalten, mit ihrem Geld nicht haushalten zu können, bis hin zu Ärzt*innen, die ihre Beschwerden nicht ernst nehmen. Sie zeigt auf, wie sich das Leben als armutsbetroffene Person gestaltet und wie umfassend die Auswirkungen sind. Auch wenn Daniela Brodesser der Weg aus der Armut gelungen ist, macht sie deutlich, dass sie eine Ausnahme ist. „Soziale Mobilität gibt es kaum“, kritisiert sie. „Die Mär von ‚hart erkämpft‘ ist genau das: ein Märchen.“
Das Buch gibt all jenen, die so oft nicht gehört werden, eine Stimme. Es schärft das Bewusstsein dafür, was Armut eigentlich bedeutet, und nimmt die Politik in die Verantwortung. Wie sieht ein nachhaltiger Weg aus der Armut aus? Welche Maßnahmen braucht es? Was ist nötig, um ein menschenwürdiges Leben für alle zu ermöglichen? Wie können eigene Privilegien genützt werden, um Verbündete*r im Kampf gegen Armut zu werden? „Es ist an der Zeit, die Debatte endlich in eine andere Richtung zu bewegen. Weg von Schuldzuweisungen an Betroffene. Hin zum Aufzeigen, warum Menschen in Armut leben, warum sie keine oder nur prekäre Jobs finden, warum sie wegen Erkrankungen arm sind und warum sie wegen Armut krank werden. Hin zum Aufklären darüber, dass ein Ende der Generalvorurteile nicht ein Ende der Zivilisation bedeuten würde, sondern den Beginn einer ernsthaften Arbeit an nachhaltiger Armutsbekämpfung.“ Daniela Brodessers Buch liefert einen wichtigen Beitrag hierfür. •
Daniela Brodesser: Armut
Kremayr & Scheriau 2022, 20 Euro