„Freak“ nennt sich die Soloperformance von STEFANIE SOURIAL, die nach dem Erfolg beim Nachwuchsfestival Freischwimmer jetzt wieder im Wiener brut aufgenommen wird. VERONIKA EBERHART befragte die Regisseurin und Darstellerin zu ihrem Stück.
Valerie IX., so wird die Protagonistin genannt, begeht gleich zu Beginn einen Gewaltakt: „Sie dreht durch und schlägt zu.“ In der Folge wird ihr Fall in einer therapeutischen Beichtsituation von hinten aufgerollt. Auf den Spuren ihrer jugendlichen Sozialisation durchlebt sie noch einmal ihre Kindheit in bäuerlicher Umgebung und ihre gedrillte Adoleszenz im bourgeoisen Internat. Dabei entlarvt Sourials detaillierte Darstellung die feinen Unterschiede sozialer Verhaltensmuster in Bourdieu’scher Manier.
In ihren Bann gezogen entführt sie das Publikum mit unglaublicher Körperspannung, akrobatischer Mimik und theatralisch eingesetzter Musik in szenische Welten, in denen sich Grundverschiedenes wie Operette, Matrix und Michel Jackson wechselseitig die Hand küssen. Klingt verwirrend, aber im „sourealistischen Universum“ ergibt es auf verblüffende Weise Sinn.
an.schläge: Wärst du damit einverstanden, wenn ich dein Stück kurz als eine performative Analyse von Klassenstrukturen zusammenfasse?
Stefanie Sourial: Ja. Besser hätte ich es nicht ausdrücken können. Das muss ich mir merken. Es handelt jedoch auch von dem Versuch einer Person, sich zugehörig zu fühlen, sich einer Gruppe anschließen zu können, und dem damit verbundenen ewigen Scheitern. Es ist der Versuch zu zeigen, dass die Wurzel eines Traumas nicht immer in der frühen Kindheit liegen muss. Die ersten Kindheitsjahre der Protagonistin sind ihre glücklichsten. Beim Heranwachsen muss sie aber langsam lernen, dass sie – egal in welchem Kontext – immer ein bisschen „zu …“ ist: zu elitär, zu provinziell, zu sehr Junge, zu mädchenhaft und durch ihren migrantischen Hintergrund, egal welchem Adelsrang angehörig, spricht sie nicht einmal ihre eigene Muttersprache „korrekt genug“. Das ist ein Phänomen der dritten Generation. Sie passt nirgendwo dazu.
Faszinierend dabei ist, dass du diese gesellschaftlichen Strukturen durch minimale Bewegungen visualisierst. Wie kommt es zu dieser peniblen Interpretation sozialer Verhaltensmuster?
Einerseits durch das leidenschaftliche, aber auch obsessive Beobachten der Handlungen anderer Leute. Hier gibt es eine Ambivalenz des (Nicht-) HinsehenWollens und trotzdem Hinsehen-Müssens. Ich empfinde die Verhaltensweisen anderer oft als so irritierend, dass ich nicht anders kann, als hinzustarren. Mit diesem Zwiespalt habe ich sehr oft zu kämpfen. Andererseits ist es dann noch immer eine große Herausforderung, für die Bühne klare Bewegungen zu schaffen, die für so viele Zuseher_innen wie möglich verständlich sein sollen, ohne mich oberflächlicher Klischees zu bedienen.
Wie hast du gelernt, dich durch deinen Körper so auszudrücken?
Ich habe vieles selbst gelernt, deswegen kann ich vieles eben nicht richtig. Theater-, tanz- und vor allem filmfasziniert war ich immer schon. Ich habe im Wohnzimmer als Kind tatsächlich die Vorhänge zugezogen und mir Filme Hunderte Male immer und immer wie der angesehen.
Meine Hauptausbildung habe ich in Paris in der Theaterschule Jacques Lecoq gemacht. Für mich war die Schule sehr hart, so wie alle anderen Schulen auch. Ich habe vieles in der Zeit der Ausbildung nicht verstanden, sondern erst viele Jahre später.
Mir drängte sich während des Stücks unweigerlich die Frage auf: Ist das eigentlich alles autobiografisch?
Ich gehe schon meistens von mir aus. In weiterer Folge habe ich jedoch einen fiktiven Charakter erfunden, um mich von meiner eigenen Geschichte distanzieren und viel weiter gehen zu können. Ich habe mich dann immer weiter eingelesen und in Recherchen verloren: Das ging von Bourdieu und vor allem Elias bis hin zu Internetforen, wo Leute sich über ihre Krankheit namens Misophonie (Geräuschintoleranz, Anm.) austauschen. Aber ich habe mich auch mit forensischer Psychiatrie beschäftigt, mit Krankenberichten aus den Perspektiven der Patient_innen und der behandelnden Psychiater_innen. Und auch mit Psychologie, natürlich mit Freud und Lacan; genauso auch mit Dokumentationen britischer Eliteinternate und Ähnlichem.
Im Gegensatz zu deinen vorherigen Projekten ist „Freak“ nicht nur komisch, sondern auch sehr ernst. Deshalb kann der Humor darin meiner Meinung nach noch mehr aus dem Vollen schöpfen. Würdest du mir zustimmen, dass eine gute Komödie immer auch tragische Elemente beinhaltet?
Oh ja. Weil die Dynamik zwischen den Gegensätzen die Spannung erzeugt. Das ist jetzt banales Blabla und schon tausendmal gesagt, aber: Da, wo wir am meisten lachen, weinen wir auch am meisten. Da, wo wir uns am wohlsten und sichersten fühlen, sind wir am angreifbarsten.
In dem Konzept für mein Stück ist etwa zu lesen: Die Protagonistin wandert ständig auf einem schmalen Grat zwischen Selbstbeherrschung und Wahnsinn, Ekel und Erregung, Selbstüberschätzung und bitterer Enttäuschung.
Sie katapultiert sich durch ihren Kontrollverlust aus ihrer Welt der oberen Zehntausend direkt in die Untersuchungshaft der forensischen Psychiatrie. Das ist tragisch, hat aber auch etwas Komisches.
In deinen Performances taucht immer wieder die Gestalt einer Superheldin/ eines Superhelden auf, was verbindet dich mit dieser utopischen Figur?
Diese Liebe zur Utopie und zu fiktiven nichtmenschlichen Charakteren ist sehr kontrovers. Mich zieht es immer zu den „Bösen der Unterwelt“ mit ihren zwiegespaltenen Persönlichkeiten. Zu Joker, Batman, Dr. Mabuse, Dr. Caligari, Dr. Frankenstein, Dr. Hannibal Lecter, Mystique …
Zum einen befinden sie sich meistens im Kampf gegen kapitalistische Großmächte, mit ihren speziellen mutantenhaften Mitteln und ihren Superkräften hat dieser endlose Kampf etwas Attraktives.
Zum anderen sind sie beängstigend, denn es handelt sich bei ihnen um z. B. wahnsinnig gewordene, obsessive Wissenschaftler_innen, getrieben von Größen und Kontrollwahn, Rachsucht oder auf der Flucht vor einem traumatischen Erlebnis. Sie kreieren etwas, von dem klar ist, dass es außer Kontrolle geraten wird. Es ist die Überzeichnung, die Satire, die sich ganz nah an der Realität befindet, die mich so anzieht.
Idee, Regie, Text, Performance – alles stammt von dir. Bist du eigentlich ein totaler Kontrollfreak oder kannst du auch gut in Kollaboration?
Ich bin eher ein „Kontrollverlustfreak“. Die letzten Jahre waren stark geprägt durch die Zusammenarbeit mit anderen Künstler_innen, wie dem Kollektiv „Theatre ad Infinitum“, dem Club Grotesque fatal (2009-2014 Club Burlesque brutal) und vielen anderen Künstler_innen und Musiker_innen.
In diversen Konstellationen wechsle ich auch oft die Rolle. Dieser Perspektivenwechsel ist extrem wichtig für mich. Genau wegen der vielen Zusammenarbeiten muss ich dann von Zeit zu Zeit ganz alleine arbeiten, um wieder zu sehen, wo ich künstlerisch gerade überhaupt stehe. Ohne die Kollaborationen wüsste ich gar nicht, was aus mir geworden wäre. Wahrscheinlich wäre ich am Kabarett Simpl gelandet.
Stefanie Sourial ist Performancekünstlerin und lebt hauptsächlich in Wien.
Veronika Eberhart ist Künstlerin und Musikerin und lebt auch meist in Wien.