Seit 2010 wird die griechische Bevölkerung durch die Krisen- und Austeritätspolitik massiv belastet. Besonders Frauen leiden unter den Sparmaßnahmen. Hilfe bieten solidarische Initiativen und kämpferische Kollektive. Eine Reportage von MANUELA BANOŽA
Ich sitze mit Voula in ihrer Wohnung in einem Vorort von Thessaloniki. Sie hat handgemachte griechische Süßigkeiten und Espresso Freddo aufgetischt. Die 54-Jährige ist Mitbegründerin der Women’s Initiative Against Debt and Austerity Measures, die sich gegen die unsoziale Sparpolitik richtet, und bereits seit ihrer Jugend politische Aktivistin und Feministin. „Frauen sind die ersten, die von Sparmaßnahmen betroffen sind, und die Situation wird jedes Jahr immer schlimmer und schlimmer. Wir leben wie Gefangene“, sagt Voula. Es sind vor allem Frauen, die sich aufgrund der Kürzungen im Care-Bereich nun unentgeltlich um Kinder, Kranke und Alte kümmern – was sich natürlich auch auf ihr soziales Leben auswirkt.
Zurück in alte Rollen. Auch Nasia, die mit 27 Jahren eines der jüngsten Mitglieder der Fraueninitiative gegen die Austeritätspolitik ist, bestätigt diesen Befund: „Frauen arbeiten oft in prekären und schlechter bezahlten Jobs. Sie sind sehr stark von der Zerstörung des Wohlfahrtsstaates betroffen. Aber der zentrale Punkt dabei ist: Welche Frauenrollen werden durch diese Politik gefördert? Welche Möglichkeiten bleiben jungen Frauen? Entweder zurück an den Herd oder ins Ausland.“ Sie selbst lebt seit letztem Jahr in Deutschland, viel lieber wäre sie aber in Griechenland geblieben. Doch seit der Krise scheint Migration für viele junge Griech_innen die einzige Option zu sein.
„Wenn die Armut durch die Türe tritt, springt die Liebe aus dem Fenster“, lautet ein griechisches Sprichwort. Neben Arbeitslosigkeit, Kürzungen im öffentlichen Sektor, Privatisierungen und einem desaströsen Gesundheitssystem kommt es zu einem weiteren Problem: Seit der Krise steigen die Fälle von häuslicher Gewalt an Frauen, aber auch an Kindern. Gleichzeitig können Hilfsorganisationen durch die finanziellen Kürzungen kaum überleben. In Griechenland wurde erst 2006 ein Gesetz eingeführt, das häusliche Gewalt und Vergewaltigung in der Ehe kriminalisiert. Ohne Unterstützung und mit zunehmender finanzieller Unsicherheit wird es für Frauen immer schwieriger, gewalttätige Beziehungen zu beenden.
Die Arbeitslosenrate beträgt in Griechenland 25 Prozent, laut Eurostat der höchste Wert in der EU. Rund 22 Prozent der Männer und 28 Prozent der Frauen sind betroffen, wobei der höchste Anteil mit knapp 56 Prozent auf Frauen unter 25 Jahren entfällt (Stand Mai 2015). In Griechenland haben über zwei Millionen Menschen keine Krankenversicherung – bei elf Millionen Einwohner_innen. Für sie sind selbstverwaltete Solidaritätskliniken der einzige Zugang zu ärztlicher Versorgung. Viele Menschen ziehen mit dreißig oder vierzig Jahren wieder bei ihren Eltern ein, weil sie sich ein eigenständiges Leben nicht mehr leisten können. Das ist insbesondere für LGBTIQs sehr problematisch, wie eine Aktivistin betont. Etliche Familien leben von den – ohnehin stark gekürzten – Pensionen der Großeltern. „Wenn unsere Großeltern sterben, können wir nicht einmal richtig trauern, weil uns auch der finanzielle Verlust belastet“, erzählt eine junge Psychologin aus Athen.
Tatkräftige Systemkritik. Seit Ausbruch der Krise und vor allem seit der Besetzung des Syntagma-Platzes (1) in Athen im Jahr 2011 sind unzählige selbstverwaltete Kollektive, solidarische Projekte und Initiativen entstanden. Diese Strukturen sind heute für viele Griech_innen nicht nur überlebensnotwendig, sie zeigen auch eine mögliche Alternative auf: einen Weg in eine solidarische, antikapitalistische Gesellschaft. Nicht alle der Initiativen haben diesen Anspruch, doch viele heben das antikapitalistische und systemkritische Element hervor. So auch Areti, die gemeinsam mit anderen Aktivist_innen, die sich dem linken und anarchistischen Spektrum zuordnen, seit 17 Jahren ein soziales Zentrum betreibt. Seit der Krise wird in diesem Zentrum einmal wöchentlich eine kollektive Küche angeboten, in der Menschen aus der Nachbarschaft essen, aber auch mitkochen können. „Seit der Krise haben unsere Strukturen nicht nur politische Bedeutung, sondern sind zu einer Notwendigkeit geworden“, meint Areti. Sie betont, dass es dabei nicht um Charity geht. Hier will man nicht für andere Menschen, sondern mit ihnen gemeinsam handeln. Angst vor der Zukunft hat die 47-Jährige nicht: „Ich betrachte mich als Überlebende, mein Überlebensinstinkt ist sehr stark“, sagt sie lachend, „in meiner Jugend war ich viel pessimistischer.“
Feministische Kollektivität. „Solidarität statt Charity“ wird auch bei der Women’s Initiative Against Debt and Austerity Measures in Thessaloniki großgeschrieben. Es geht darum, einen selbstverwalteten Raum für kollektives Handeln und Widerstand gegen die neoliberale Politik zu schaffen. „Für uns ist das keine abstrakte Diskussion, die neoliberale Politik beeinflusst unser tagtägliches Leben und Überleben“, so Voula.
Seit Jänner 2014 hat die Initiative auch einen fixen Raum, in dem sich die Frauen treffen können. Das ehemalige Café wurde ihnen kostenlos von der Besitzerin zur Verfügung gestellt, die nun selbst ebenfalls bei der Initiative aktiv ist. Die wichtigsten Ziele der Fraueninitiative sind einerseits die Solidarität unter den Frauen und andererseits die Emanzipation der Frauen. Psychologisch sei es für die Frauen wichtig zu wissen, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine sind. Nasia sagt: „Kollektivität ist unser Mittel zum Kampf. Aber auch die Emanzipation von Frauen ist sehr wichtig. Es ist notwendig, dass wir die Zusammenhänge und die uns zugewiesenen Rollen durchschauen. Nur dadurch können neue Wege eingeschlagen werden – gemeinsam mit anderen sozialen Bewegungen.“
Die Frauen, die sich in der Initiative engagieren, haben unterschiedliche Hintergründe. Einige waren schon vor der Krise politisch aktiv, andere nahmen erst danach zum ersten Mal an einer Demonstration teil. Die meisten Mitglieder sind alleinstehend oder alleinerziehende Mütter. Fast alle sind arbeitslos und kommen nur sehr schwer über die Runden. „Wir möchten jeder Frau Raum für ihre eigene Stimme und ihre eigene Geschichte geben“, betont Voula. In der Fraueninitiative werden persönliche Erfahrungen ausgetauscht und Probleme besprochen. Voula hält das für sehr wichtig: „Sonst würde jede von uns alleine zu Hause sitzen.“
Oxi. Der Raum ist täglich geöffnet und bietet verschiedene Veranstaltungen an, wie etwa gemeinsames Kochen oder Filmvorführungen. Es gibt Mal- und Theatergruppen sowie eine Gruppe, die sich mit feministischer Theorie auseinandersetzt. Die Fraueninitiative bietet Frauen jedoch nicht nur eine psychologische Stütze, sondern auch materielle Hilfe an. Jeden Freitag wird gespendete Nahrung verteilt. Oft aber reichen die Spenden nicht aus, es fehlt an finanziellen Mitteln. Die Angst vor der Zukunft ist bei vielen groß. Doch allen Drohungen der EU zum Trotz stimmte die Mehrheit der Griech_innen gegen die Weiterführung der Austeritätsmaßnahmen und damit gegen die neoliberale Krisen- und Sparpolitik. Für viele überraschend war, dass Frauen mit 62,3 Prozent sogar häufiger mit „Nein“ abstimmten als Männer. Ungeachtet des Referendums wurde kurz darauf das dritte Memorandum beschlossen: Trotz ihres bisherigen Versagens wird die Austeritätspolitik also sogar in verschärfter Form weitergeführt. „Es ist schwierig zu kämpfen, wenn du hungrig bist und nicht weißt, wie lange du noch ein Dach über dem Kopf haben wirst“, sagt die 55-jährige Katerina, „aber ich versuche trotzdem weiterzumachen und Lösungen zu finden.“
(1) Die Besetzung des Syntagma-Platzes war Ausdruck des Protests gegen die Sparpolitik und kann mit dem Aufbegehren der spanischen „Indignados“ verglichen werden.
Manuela Banoža schreibt ihre Masterarbeit über die genderspezifischen Aspekte der Krisen- und Austeritätspolitik in Griechen- land am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie in Wien.