Wie soll die Pflege von alten Menschen und Menschen mit besonderen Bedürfnissen in Zukunft aussehen? Wie weit darf dafür Digitalisierung gehen? Fragen, denen sich Feministinnen dringend stellen müssen, meint Stefanie Wöhl.
Mit der Covid-19-Pandemie drängte sich das Thema der (Alten-)Pflege der öffentlichen Debatte nahezu auf. Doch das liegt nicht allein an der Pandemiesituation und den speziellen Herausforderungen, die diese für die Pflege und Betreuung von älteren Menschen, Pflegebedürftigen und Kindern mit sich gebracht hat. Denn bereits vor der Pandemie stieg der Bedarf an Pflegekräften – unsere Bevölkerung wird immer älter. Der öffentliche Sektor in Österreich verfügt jedoch nicht über ausreichend Kapazitäten, um den hohen Bedarf an Pflegeleistungen aufzufangen. Der Fachkräftemangel verschärft die Situation zusätzlich.
Noch immer klafft die Geschlechterkluft in der Pflege gewaltig: Meist sind es Frauen unterschiedlicher Herkunft, die sowohl bezahlte als auch unbezahlte Pflegearbeit leisten. In Österreich sind es zu 75 Prozent Frauen, die unentgeltlich die private Pflege von Angehörigen leisten, da das Pflegegeld in ärmeren Haushalten bei Weitem nicht ausreicht, um eine Pflegekraft anzustellen. Dies trifft auch für Menschen zu, die über ein geringes Einkommen oder eine zu geringe Pension verfügen. Um diesen Bedarf in Privathaushalten abzufedern, wurde in Österreich 2007 die 24-Stunden-Pflege rechtlich eingeführt. Diese ermöglicht es, entweder als sogenannte Selbstständige in Österreich tätig zu sein oder angestellt bei einem Wohlfahrtsträger oder in einem Privathaushalt zu arbeiten. Auf die rechtlichen Probleme und persönlichen Risiken, die damit einhergehen, weist die IG24, eine Interessenvertretung von 24-Stunden-Betreuer:innen, unermüdlich hin. Denn die meisten 24-Stunden-Betreuer:innen sind als Selbstständige tätig und profitieren so nicht von einem Kollektivvertrag, haben keinen bezahlten Urlaub und keine geregelte Arbeitszeitregulierung. Sie sind hochgradig abhängig vom guten Willen der zahlenden Person.
Individualisierung und Ökonomisierung. Die Zeit, die Frauen als pflegende Angehörige für unbezahlte Pflegearbeit in Privathaushalten leisten, ist indes nach wie vor hoch. Mit der 24-Stunden-Betreuung werden Pflegeleistungen an Migrantinnen ausgelagert, was zu einer zusätzlichen Individualisierung in der Betreuung von Pflegebedürftigen führt und den rechtlichen Rahmen dieser Leistungen strapaziert. In der wissenschaftlichen Debatte wird zudem der Zeitfaktor betont, der bei privaten Pflegeanbietern und Vermittlungs-Agenturen in Deutschland z. B. besonders eng gesetzt ist, um das betriebswirtschaftlich orientierte Kosten-Nutzen-Verhältnis zu erfüllen. Diese sogenannte Taylorisierung der Pflegearbeit in der ambulanten Pflege geht einher mit einer Modularisierung der Pflegearbeit, in der bestimmte Leistungen in einem vorgegebenen Zeitrahmen erbracht werden sollen. Durch digitale Innovationen, wie das Eintragen von Pflegeleistungen auf mobilen Endgeräten mit kleinen Bildschirmen, fühlen sich Arbeitnehmer:innen zudem oft überfordert. Auch entspricht der reale Zeitbedarf nicht den engen Vorgaben, wie Interviews mit Pflegekräften zeigen, da pflegende Tätigkeiten mit Menschen schwer in effiziente Zeit-Schemata eingepasst werden können.
Digitaler Wandel. Neben diesen Entwicklungen steht der Arbeitsprozess der Pflege selbst vor einem grundlegenden technologischen Wandel durch Digitalisierung. Neben der digitalen Pflegedokumentation werden moderne Robotik sowie mobile Endgeräte auch für die Altenpflege eingesetzt. Smarte Sensoren sollen Unfälle reduzieren. Diese Technologien werden selten zusammen mit den Betroffenen bzw. Nutzer:nnen entwickelt, was jedoch eine Voraussetzung wäre, um Arbeitsprozesse tatsächlich zu erleichtern. Denn nur so könnten Tools als nützlich und nicht als Kontrolle oder als schwer zu bedienen erlebt werden. Zugleich können menschliche Betreuung und Fürsorge schlicht nicht digitalisiert oder rationalisiert werden. Die Digitalisierung im Pflegesektor stellt somit auch kein vergleichbares Investitionspotenzial für Staaten und Unternehmen dar – wie etwa der Dienstleistungs- oder Finanzsektor –, da hier Zeitressourcen nicht durch technologische Innovationen allein ersetzt werden können.
Durch den digitalen Wandel entstehen auch neue Herausforderungen, die sich auf die Beschäftigung von Pflegepersonal auswirken. Dies fängt bei den rechtlichen Voraussetzungen der neuen EU-weiten Datenschutzgrundverordnungen an, setzt sich im Außendienst fort, wo die Pflegenden auf Daten digital zugreifen müssen, und hört bei den zahlreichen neuen Apps zur Bewältigung der alltäglichen Arbeitsroutine noch lange nicht auf.
Digitale Endgeräte können zudem das Gespräch und die persönliche Zuwendung mit den Pflegebedürftigen nicht ersetzen, gerade die gegenwärtige Generation von älteren Pflegebedürftigen ist nicht darauf eingestellt, routiniert mit dem Smartphone umzugehen. Mitarbeiter:innen der mobilen Pflege betonen in Interviews immer wieder, dass die persönliche Rücksprache besonders wichtig sei – auch mit den Angehörigen. Dies kann nicht allein durch digitale Anwendungen ersetzt werden.
Interessanterweise hat die Pandemie auch zu einem Digitalisierungsschub innerhalb verschiedener (Pflege-)Einrichtungen beigetragen. Durch neue Herausforderungen wurden digitale Prozesse intern beschleunigt, die andernfalls so sicherlich nicht stattgefunden hätten.
Neue Kämpfe. Insofern stellt sich die Frage immer dringender, wie Pflege und Betreuung in Zukunft aussehen sollten. Dem Fachkräftemangel kann nicht allein durch eine bessere Entlohnung entgegengewirkt werden. Die Frage, wie Leben im Alter oder mit besonderen Bedürfnissen möglich ist und wie es jenseits betriebswirtschaftlicher Effizienzkriterien gestaltet werden kann, erfordert viel mehr ein Umdenken. Gerade im feministischen Umfeld existieren dafür schon jetzt verschiedene Modelle. So startete Femme Fiscale 2020 in Österreich eine Kampagne, die „Mehr für Care“ heißt, und die eine Wirtschaft fordert, „die für alle sorgt“.
Welche grundlegenden Bedürfnisse im Leben wichtig sind, hat die Pandemie mehr als deutlich aufgezeigt. Die Frage bleibt, wie sie weiterhin ins Zentrum nicht nur von sozialpolitischen Debatten gestellt werden können. Wir sehen ja, wie viel Geld auf einmal bereitgestellt werden kann, wenn internationale Krisen dies erfordern. Warum also warten, bis sich auch im Pflegealltag etwas ändert? Die Kampagne der IG24 hat wesentlich zu einer Sichtbarmachung von Arbeit in Privathaushalten beigetragen, wichtig wäre jetzt, diese politischen Bewegungen und Kämpfe zu verbinden – auch außerhalb der Pflege. So trifft auch der Lehrer:innenmangel und die prekäre Situation in den Krankenhäusern den Kern einer solidarischen Gesellschaft. Die aktuelle Energiekrise, die eine direkte Folge des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine ist, bietet hier neue Ansatzpunkte: Was in den Privathaushalten passiert, und somit unsere grundlegenden Bedürfnisse betrifft, muss zum öffentlichen Thema gemacht werden. Möglichst nicht nur von Feminist:innen. •
Stefanie Wöhl ist Politikwissenschafterin in Wien und interviewte Angestellte in der mobilen Pflege über ihre Arbeitssituation.