Die Straße bleibt ein wichtiger Widerstandsraum des „popularen Feminismus“, sagen Verónica Gago and Lucí Cavallero, die am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien zu Gast waren.
Yola Pelliccia und Brigitte Theißl haben die feministischen Wissenschafterinnen und Aktivistinnen gefragt, was wir in Europa von der beeindruckend starken argentinischen Bewegung lernen können.
an.schläge: Wir treffen uns hier in Wien, wo vermutlich bald ein rechtsextremer Kanzler regiert. In den USA steht Trumps zweite Amtszeit bevor. In Argentinien zieht Javier Milei gegen den Feminismus ins Feld und hat das Frauenministerium abgeschafft. Glauben Sie, dass der hart erkämpfte feministische Fortschritt der vergangenen fünfzig Jahre gerade Stück für Stück abgewickelt wird?
Verónica Gago: In Argentinien konzentriert sich die Regierung von Javier Milei tatsächlich darauf, die Errungenschaften der feministischen Bewegung zu demontieren.
Einer der wichtigsten gewonnenen Kämpfe in Argentinien war zuletzt das Recht auf Abtreibung. Nun hat Milei das Recht zwar nicht abgeschafft, aber er streicht allen öffentlichen Einrichtungen, die Abbrüche anbieten, das Geld. Milei führt auch einen explizit abtreibungsfeindlichen Diskurs. All jene, die das grüne Tuch tragen, ein Symbol für den Kampf um die Abtreibung, bezeichnet er als „Mörder:innen“. Der Angriff erfolgt also auf mehreren Ebenen gleichzeitig. Auch das Frauenministerium hat er aufgelöst und alle Programme, die sich reproduktiver Gesundheit und Gewaltschutz widmen, die Finanzierung gestrichen.
Javier Milei baut aktuell Argentinien radikal um – und wird weltweit dafür von neoliberalen Denker*innen gefeiert. Was bedeutet diese neoliberale Politik für die Arbeiter*innenklasse?
Lucí Cavallero: Die Armut in Argentinien ist innerhalb eines Jahres enorm angestiegen. Es kommt zu massiven Entlassungen, vor allem in der öffentlichen Verwaltung, aber auch in privaten Unternehmen. Das ist eine Geschwindigkeit, die wir nur als neoliberalen Schock bezeichnen können.
Ich glaube, dass der weltweite Jubel über seine Austeritätspolitik mit dieser Enthemmung und der Zurschaustellung von Gewalt zu tun hat.
V. G.: Ja, er demonstriert ein solches Ausmaß an Grausamkeit und eine Geschwindigkeit, dass es ein wahres Spektakel ist. Im vergangenen Jahr war Milei in Davos zu Gast, dort hat er versprochen, allen sozialen Kämpfen in Argentinien ein Ende zu setzen. Gewerkschaften und soziale Bewegungen haben in Argentinien eine große Tradition. Umso wichtiger ist es für ihn, auf globaler Ebene zu zeigen, dass er diese Traditionen zerstören kann.
Inwiefern trifft der politische Wandel auch die Universitäten?
V. G.: Milei hat es auf die öffentlichen Universitäten abgesehen.
Eine der größten Demonstrationen im letzten Jahr war die für das Recht auf freie Bildung. Es gab Slogans wie „Wir sind Arbeiter und wir sind die öffentliche Universität“ oder „Meine Mutter war eine Hausangestellte“.
L. C.: Und wir kämpfen dafür, dass die Universität nicht zu einem Ort für die neoliberale Aneignung von etwas wird, das kollektiv produziert wird. Das ist ein täglicher Kampf.
Verónica, in einem Ihrer Aufsätze, „Acht Thesen zur feministischen Revolution“, schreiben Sie, dass die feministische Bewegung in Argentinien zwei besondere Merkmale hat: Sie ist eine Massenbewegung und sie ist radikal.
Wie radikal muss eine feministische Bewegung sein, die den neuen Faschismus bekämpft?
V. G.: Ich glaube, dass der Aufstieg der rechten Regierung in Argentinien eine Art Antwort auf diese Radikalität ist. Es gibt aber auch diese gemeinsamen Themen der globalen Rechten. Der Angriff auf Abtreibungsrechte, Anti-Trans-Rechte, das Verbot von Sexualerziehung in der Schule. Und für die feministische Bewegung ist es aktuell sehr schwierig, sich zu organisieren und zu mobilisieren, weil die Wirtschaftskrise unsere Möglichkeiten zur Organisierung einschränkt.
Nichtsdestotrotz hat die letzte Demonstration am 8. März in Argentinien eine Million Menschen mobilisiert.
Die „Ni Una Menos“-Bewegung hat weit über Argentinien und Lateinamerika hinaus enorme Schlagkraft entwickelt, die Radikalität und die Leidenschaft hat Feministinnen weltweit inspiriert. Was können wir in Europa von der Bewegung lernen?
L. C.: Ich denke, es liegt vor allem daran, dass Feminismus nicht nur in einer Art „Ghetto“ passiert, sondern immer Allianzen mit anderen Bewegungen sucht.
Es ist ein „popularer“ Feminismus, der an vielen Orten gleichzeitig stattfindet, an den Universitäten, an den Arbeitsplätzen, in den Schulen, in den Krankenhäusern.
Hinter der Kampagne für das Recht auf Abtreibung steht zum Beispiel ein Netzwerk von Lehrer*innen und Krankenhausangestellten. In den vergangenen zwanzig Jahren ist hier sehr viel Aufbauarbeit passiert. Es gibt keinen Weg, eine Massenbewegung zu schaffen, ohne hart dafür zu arbeiten. Du kommst nicht umhin, dich zu engagieren und viel Energie dem kollektiven Kampf zu widmen. Ein Kampf, der dir keine individuellen Vorteile bringen wird. Das ist also die wichtigste Lektion: Eine Massenbewegung entsteht nur dann, wenn du einen Teil deines Lebens dafür opferst. V. G.: Auch die generationenübergreifende Dimension der Bewegung ist sehr wichtig. Wenn man zum Beispiel die Kampagne für das Recht auf sichere, legale und kostenlose Abtreibung betrachtet, gibt es Aktivist*innen, die in den 80er-Jahren begonnen haben, sich zu engagieren. Auch das nationale Treffen von Frauen, Lesben und Transpersonen in Argentinien ist einzigartig. Das ist ein nationales Treffen, das jedes Jahr in einer anderen Provinz stattfindet.
Es gibt also eine Schule des Feminismus über einen langen Zeitraum hinweg.
Dadurch haben diese verschiedenen Generationen ihre Erfahrungen zusammengebracht und vermitteln sie anderen. Auch internationale Netzwerke sind für uns enorm wichtig. Das gibt uns viel Energie, es bestehen enge Verbindungen nach Chile, Mexiko, Ecuador, Brasilien, aber auch Spanien und Italien. Das ist auch eine Quelle der Stärke.
Was brauchen feministische Bewegungen angesichts des globalen Rechtsrucks jetzt – woraus können wir Kraft und Hoffnung schöpfen?
L. C.: Es ist enorm wichtig, dass wir aus dem täglichen Leben Politik machen. Es geht um sämtliche Fragen unseres Alltags, um Arbeit, Beziehungen, den Zugang zu Wohnraum.
Und wir müssen auch an Orten politisieren, die die Rechten, manchmal aber auch die traditionellen Linken gering schätzen. Das kann zum Beispiel ein Krankenhaus sein oder eine Schule – Orte, an denen viele Menschen politisiert werden.
V. G.: Ich denke es ist auch wichtig, die Mobilisierung auf der Straße als Ort der kollektiven Stärke aufrechtzuerhalten – und das trotz der Tatsache, dass wir zumindest in Argentinien mit Repression und Formen der Kriminalisierung von Protest konfrontiert sind. Aber in Argentinien gelingt es der extremen Rechten nicht, die Straße zu erobern, die Menschen zu mobilisieren, die Straße bleibt unser Raum. Und es braucht diese kollektive Energie.