Das Hörspiel „Desire“ porträtiert drei queere Sexarbeiterinnen und liefert eine klischeefreie Darstellung, die uns ganz nahe heran lässt. Von Verena Kettner
Sam ist eigentlich glücklich in ihrer Beziehung mit Partner und gemeinsamen Kind. Wenn da nur nicht Jess wäre, die sich so gut anfühlt und so gut riecht und an die Sam denken muss, wenn sie Sex mit Kunden hat. In „Desire“, Tia Morgens erster Hörspielreihe, folgen wir drei Sexarbeiter*innen durch ihre queeren Leben in Berlin. Wie Sam hat es auch Lilli nicht ganz einfach: Obwohl sie das niemals zugeben würde, schmerzt sie die Distanz zu ihrer Mutter. Die Entfremdung ist bereits mit Lillis queerem Coming-out eingetreten. Doch durch die Unmöglichkeit, über ihren Job als Sexarbeiterin zu sprechen, verstärkt sie sich immer weiter. Robin kämpft derweil mit der Frage, wie sich ein nicht-binärer Körper in der Sexarbeit behaupten kann, und damit, dass Robins Partnerin immer mehr mit der Berufswahl hadert. Das Hörspiel hat sechs Folgen, jeweils zwei widmen sich den Erlebnissen einer der drei Sexarbeiter*innen. Während wir Hörer*innen in ihr Gefühlsleben eintauchen dürfen, lassen sie uns auch an ihrem Arbeitsalltag teilhaben. Sie reflektieren über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Selbstbestimmung im Beruf; erzählen vom Genuss, den ihnen die Macht, die sie über Kunden haben, bereitet; über die Zweifel, ob sie sich am Ende nicht doch wieder nur dem männlichen Begehren unterwerfen. Wir bekommen eine Ahnung von der emotionalen Arbeit, die Sexarbeit mit sich bringt, wenn sie zum Beispiel mit einem Kunden über dessen Untreue reden müssen; von gesellschaftlichen Vorurteilen und Stigmata, die sich nicht nur auf der Straße, sondern eben auch unter den Liebsten finden; vom Umgang mit sympathischen Kunden, schwierigen Kunden, übergriffigen Kunden und von der Herausforderung, aufgrund der weiblichen Sozialisation die eigenen Grenzen im Job klar zu erkennen und zu setzen.
Die Sexarbeit, die wir im Hörspiel kennenlernen, ist vielseitig: Obwohl Sam, Lilli und Robin im Bordell arbeiten, zeigen sie uns auch ein paar Seitenblicke in die Welt des Escort und Cam Sex – sowie auch in die Reproarbeit, die es braucht, um Sexarbeit überhaupt erst anbieten zu können, wie beispielsweise das Hotelzimmer nach jedem Kunden zu putzen. „Manchmal werde ich melancholisch, weil die Welt so ein beschissener Ort ist, und Sexarbeit das so erbarmungslos entblößt“, sagt Robin in einer Folge. Die Darstellung von Sexarbeit im Hörspiel lässt die Hörer*innen ganz nahe heran, sie ist kritisch und liebevoll zugleich. Relevante Themen wie erzwungene Gesundheitschecks, prekäre Arbeitsbedingungen, Kontrollen im Bordell und Verdrängung bekommen genügend Raum und dennoch schlägt die Erzählung immer wieder den Bogen zurück zu ihrem Kernthema: der Selbstbestimmung der drei Hauptcharaktere und der beeindruckenden und berührenden Stärke einer solidarischen, queeren Community. Die fiktiven Charaktere und Geschichten sind dabei sehr divers und differenziert entworfen und beruhen auf intimen Interviews und Begegnungen mit über dreißig LGBTQIA+ Sexarbeiter*innen aus 14 Ländern. Prekarität und Klasse spielen dabei ebenso eine Rolle wie Kämpfe aufgrund von Herkunft und Hautfarbe und das Erforschen der eigenen sexuellen und geschlechtlichen Identität. Die Stimmen der Sprecher*innen sind überaus angenehm. Sie vermitteln Humor, Sexyness, Melancholie und Zweifel, und scheuen sich dabei nicht, knallhart ehrlich und intim zu bleiben.
Dem absolut empfehlenswerten Hörspiel gelingt so nicht nur eine diverse, lebensechte und klischeefreie Darstellung von queeren Sexarbeiter*innen mit unterschiedlichsten Begehren, Problemen und Träumen, sondern auch ein machtvolles Gegennarrativ zur gängigen medialen Darstellung von Sexarbeiter*innen. Anstatt mit einem männlichen, voyeuristischen und teilweise auch exotisierenden Blick, der sie viktimisiert und als Opfer ihrer Umstände darstellt, werden die Porträtierten hier realitätsnah gezeigt: sehr vielfältig, sehr unterschiedlich und immer sehr menschlich. Das Gefühl von Empowerment, das sich so vermittelt, basiert nicht auf der romantisierten Erzählung einer individuellen Ermächtigung, sondern auf dem radikal zärtlichen, kollektiven Kampf um eine queere Utopie, den die Hauptcharaktere gemeinschaftlich führen. •
Verena Kettner liebt Queerness, Berlin und sanfte Stimmen und hat somit das perfekte Hörspiel für sich gefunden.