Dem Militarisierungsschub, den der Ukraine-Krieg brachte, muss sich feministische Außenpolitik entschlossen entgegensetzen. Von Anika Oettler
Am 24. Februar 2022 starteten die russischen Streitkräfte die Invasion der Ukraine. Die öffentliche Debatte über den Angriffskrieg konzentriert sich seither auf die Frage, wie Großmächte oder Militärbündnisse ihre Einflusszonen absichern und ihre Sicherheitsinteressen angesichts imperialer Obsession verteidigen können. Die vom deutschen Kanzler Scholz beschworene Zeitenwende ist eine überraschend schnelle Diskurswende, die eine ungeahnte Renaissance militärischen Denkens einläutete. Angesichts des beängstigenden Eskalationspotentials schien die Befassung mit Verteidigungsfähigkeit und Aufrüstung ein notwendiger Schritt zu sein, der die Werte der Friedenslogik zunächst ausschaltete. Von feministischen Anliegen ganz zu schweigen.
In der düsteren Situation nach Kriegsbeginn ist eine doppelte Stille aufgefallen: die Stille der feministischen Friedensforscher:innen und das Stillschweigen über feministische Außenpolitik. Besonders irritierend war die öffentliche Zurückhaltung der NATO, die seit 2012 eine „Spezielle Repräsentantin für Frauen, Frieden und Sicherheit“ beschäftigt. Die Tweets von Irene Fellin sind überschaubar. Was bedeutet diese Stille?
Feministische Außenpolitik. Der Begriff der feministischen Außenpolitik hat Konjunktur. Hinter diesem Konzept steht eine jahrzehntelange transnationale Geschichte feministischer Bewegungen mit vielen Meilensteinen der Normentwicklung. Neben der 1981 in Kraft getretenen UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) sind die UN-Resolution 1325 und eine Reihe von Nachfolgeresolutionen besonders relevant. Dabei geht es einerseits um den Schutz vor sexueller und gender-basierter Gewalt in Konfliktsituationen, andererseits aber auch um die gendersensible Ausrichtung von Sicherheitspolitik und die Repräsentation von Frauen in Friedensprozessen. An diese Normen knüpft die Praxis der feministischen Außenpolitik an, zu der sich Schweden 2014 bekannt hat und die seitdem in Ländern wie Neuseeland, Frankreich, Mexiko und Kanada als ein zumindest flankierendes außenpolitisches Paradigma eingeführt wurde. Auch die deutsche Regierung hat in ihrem Koalitionsvertrag die drei Grundprinzipien der feministischen Außenpolitik festgehalten: Rechte, Repräsentanz, Ressourcen: Das bedeutet, dass Sicherheits- und Außenpolitik auf die Menschenrechte, insbesondere die Rechte von Frauen und Mädchen, ausgerichtet werden soll. Die Repräsentation von Frauen auf allen Ebenen der sicherheitsrelevanten Politik soll erhöht werden und finanzielle außenpolitische Ressourcen sollen so kanalisiert werden, dass mehr Geschlechtergerechtigkeit erreicht wird.
Welt ohne Krieg. Das Einbringen geschlechtsspezifischer Perspektiven hat in den letzten Jahrzehnten Impulse in der Friedensforschung gesetzt und insbesondere die Bedeutung von inklusiven und nachhaltigen Prozessen der Konfliktbearbeitung deutlich gemacht. In vielen Ländern haben feministische Bewegungen skandalisiert, dass Entscheidungen zu bewaffneten Auseinandersetzungen in aller Regel von Männern getroffen werden und dass das Töten, Foltern und Vergewaltigen Verbrechen sind, die weitestgehend von Männern verübt werden. Ausgehend von der Forderung, den Kampf gegen sexualisierte Gewalt in Konflikt- und Postkonfliktsituationen ganz oben auf die friedenspolitische Agenda zu setzen, hat sich ein breiter Katalog an Ansätzen entwickelt, um strukturelle Gewaltursachen zu beseitigen und die Grundlage für eine Welt ohne Kriege zu legen. Dazu gehören der Kampf gegen toxische, militarisierte Männlichkeitsbilder ebenso wie die rechtliche Verankerung von Diversität und gendersensible Reformen im Agrar- oder Sicherheitssektor. Ein großer Teil dieser breitgefächerten Agenda wurde in und für Länder des globalen Südens entwickelt. Langfristige und inklusive Transformationen sollen die Grundlage für einen nachhaltigen Frieden schaffen. Damit bewegt sich auch die „Women, Peace, and Security“-Agenda in einem Rahmen, den Victoria Hesford als „feminist time“ bezeichnet hat. Ein Krieg hingegen lässt die Perspektive langfristiger Lösungen verblassen und aktiviert die „time of nation“.
Was wir in den letzten Wochen beobachtet haben, ist das plötzliche Umschalten der politischen und medialen Debatten in einen Notfallmodus, der langfristige Perspektiven des gesellschaftlichen Wandels nicht mehr zu denken vermag und sich auf den Status quo der Großmächtepolitik konzentriert. Für die geflohenen und gebliebenen Ukrainer:innen geht es zudem um einen nationalen anti-imperialistischen Überlebenskampf, der die Errungenschaften feministischer und LGBTIQ-Bewegungen zu ersticken droht. In dieser Situation waren auch feministische Friedensforscher:innen zunächst in einer Schockstarre. Waren die Prinzipien der feministischen Außenpolitik zu naiv angesichts des Angriffswillens Putins?
Erste feministische Reaktionen. Die Schockstarre beginnt sich allmählich zu lösen und feministische Positionen werden sichtbarer. Cornelius Adebahr und Barbara Mittelhammer illustrieren dabei das grundsätzliche Dilemma, dass es mitten im Krieg eigentlich schon zu spät ist für eine feministische Perspektive. Diese müsse Priorität werden, „wenn die Waffen endlich wieder schweigen“, schreiben sie. Dass bereits gegenwärtig feministische Außenpolitik ins Spiel gebracht werden muss, fordert hingegen die NATO-Expertin Katharine A. M. Wright. Ausgehend von der Beobachtung, dass die Rhetorik und Realität der Gender-Agenda der NATO weit auseinanderklaffen, fordert sie ein dezidiertes Engagement der Gender-Beraterinnen und -repräsentantinnen der NATO. Drittens – und dies kommt in vielen Debatten um den Angriffskrieg viel zu kurz – hat der Konflikt eine gefährliche ideologische Komponente. In seinem Beitrag „Putin’s Anti-Gay War on Ukraine“ in der Boston Review befasst sich Emil Edenborg mit dem antifeministischen und homofeindlichen ideologischen Hintergrund des russischen Angriffs auf die Ukraine, bei dem es aus der Sicht Putins darum geht, die „traditionellen Werte“ zu verteidigen und die Degenerierung und Zersetzung des russischen Volkes zu verhindern.
Im Westen nur Gender-Rhetorik? Hat feministische Außenpolitik in der realpolitischen Zeitenwende ihre Bedeutung verloren? Gerade jetzt muss unter Beweis gestellt werden, dass feministische Außenpolitik weder eine essenzialistische Glorifizierung vermeintlich friedliebender Frauen noch eine nebulöse femonationalistische Angelegenheit ist, bei der nationalistische Ideologien mit ausgewählten feministischen Ideen verbunden werden. Warum positionieren sich die NATO-Staaten nicht viel deutlicher mit einer gender-responsiven Agenda, die Teil ihres institutionellen Selbstverständnisses sein müsste? Dies dürfte vor allem auf innenpolitische Dynamiken überall dort zurückzuführen sein, wo Antifeminismus und „Anti-Genderismus“ in den letzten Jahren einen deutlichen Aufschwung erfahren haben und derzeit die Strukturlogik des patriarchalen Schutzes dominiert. Gerade auch angesichts dieser Gesamtsituation muss es nun darum gehen, gegen langfristige Militarisierung und Aufrüstung zu argumentieren. Auch sind Repräsentanz, Rechte und Ressourcen im Spiel. Es geht darum, weiter zu denken, Staatsfinanzen zukunftssicher zu gestalten und Politik auf menschliche Sicherheit hin auszurichten. •
Anika Oettler ist Professorin für Soziologie in Marburg. Sie lebt im Marburger Umland und hält sich (eigentlich) viel in Kolumbien auf. @AnikaOettler