Sexualerziehung ist politisch heftig umkämpft und wird von Rechten gerne als „Frühsexualisierung“ diffamiert. LEA SUSEMICHEL und BRIGITTE THEIßL haben mit GABRIELE ROTHUBER darüber gesprochen, warum sie schon in der Volksschule unerlässlich ist.
an.schläge: Der Bereich der Sexualpädagogik wird massiv politisiert. Versuche, emanzipatorische Sexualpädagogik im Lehrplan zu implementieren, waren zuletzt in Deutschland hart umkämpft. Weshalb ist gerade die Sexualpädagogik so ein ideologisches Schlachtfeld? Und welche Probleme gibt es konkret in Österreich?
Gabriele Rothuber: Sexualität betrifft alle Menschen in irgendeiner Form, jede*r hat andere Erinnerungen an die eigene Aufklärung, an positive und negative Erfahrungen. Eigentlich sollte der Wunsch bestehen, es besser zu machen. Viele Menschen sind aber völlig überfordert, weil sie keine Sprache für Sexualität haben: Es fällt ihnen schwer, mit dem*der Partner*in darüber zu sprechen – und mit Kindern und Jugendlichen geht es gar nicht. Gegner*innen der schulischen sexuellen Bildung kommen oftmals mit dem Argument der „Frühsexualisierung“ und wollen Schüler*innen wichtige Informationen vorenthalten, nach dem Motto: Was sie nicht wissen, interessiert sie auch nicht. Wir leben aber in einer vielfältigen Gesellschaft, die Rechte homosexueller Menschen werden denen heterosexueller immer mehr gleichgestellt. Transidente oder intergeschlechtliche Menschen tragen ihre Kämpfe für Menschenrechte öffentlich aus. Selbstverständlich bekommen das auch schon kleine Kinder mit. Zu denken, Kinder davor schützen zu müssen, dass es zum Beispiel Menschen gibt, die das gleiche Geschlecht lieben, ist eine der stärksten Formen von Homophobie.
Frühsexualisierung oder gar Traumatisierung passieren sicher nicht durch eine sensible, altersadäquate, spielerische Aufklärung durch Sexualpädagog*innen mit samtigen Vulvakissen und gehäkelten Gebärmüttern! Sie passiert nicht dadurch, dass man Kindern erklärt, woher sie kommen.
Wichtige Argumente für Sexualpädagogik sind der Kinderschutz und die digitalen Medien. Aufgeklärte Kinder sind besser vor sexuellen Missbrauchshandlungen geschützt, weil sie wissen, wo Sex „hingehört“ – nämlich zu großen Jugendlichen oder Erwachsenen, wenn die das wollen. Sie wissen auch, dass das niemand mit Kindern machen darf. Kindern, die das nicht wissen, kann man leicht einreden, dass „das“ alle Onkel mit ihren Nichten machen. Mit diesem Argument hat man Eltern meist im Boot. Und wenn man dann noch ein wenig erzählt, welche Erfahrungen wir mit Pornografie bereits in der Volksschule haben, und fragt, ob sie die Aufklärung wirklich dem Smartphone überlassen wollen, dann ist meist klar, dass das Thema wichtig ist. Je früher man beginnt, mit Kindern ganz unaufgeregt über das Thema zu reden, umso einfacher ist es – weil es noch nicht peinlich besetzt ist.
Das für mich größte Problem sehe ich aber nicht in einzelnen „besorgten Eltern“ oder „besorgten Politiker*innen“, sondern in der praktischen Umsetzung des Grundsatzerlasses Sexualerziehung von 2015: Ein Erlass befähigt doch niemanden, zeitgemäße Sexualpädagogik in die Klassenräume zu bringen. Nach wie vor ist das auch ein viel zu wenig beachtetes Thema in den Curricula und die Qualität bei Weitem nicht einheitlich. Und ich traue mich zu behaupten, dass noch immer viele Kinder die Volksschule verlassen, ohne aufgeklärt worden zu sein. Und in der nächsthöheren Schule wird oft davon ausgegangen, dass sie sich eh schon auskennen.
Was sind wichtige Grundsätze bei der Sexualerziehung von Kindern? Wann soll man damit wie beginnen?
Die meisten Kinder interessieren sich schon sehr früh für Geschlechtsunterschiede und woher die Babys kommen. Nicht alle stellen konkrete Fragen hierzu, aber versteckte. Viele hören, dass sie für solche Themen noch viel zu klein wären. Man sollte sich jedoch bewusst sein, dass man nicht nicht Sexualerziehung machen kann. Wie und ob ich eine Frage beantworte, transportiert Haltung und Werte. Sexualerziehung ist immer Wertevermittlung – und es ist gut, wenn man sich mit den eigenen Werten auseinandergesetzt hat.
Kindern soll ein positiver Zugang zum Thema Sexualität vermittelt werden. Und das beginnt am Wickeltisch, wenn ich ein Baby eincreme und alle Körperteile benenne. Oder wenn es sich an die Genitalien fasst und ich reagiere mit einem wohlwollenden Lächeln. Oder wenn Kinder sich gegenseitig erforschen, beim Klogehen oder bei den „Doktorspielen“. Ich erfahre so viel Verunsicherung bei Eltern und auch Pädagog*innen: Was ist kindliche Sexualität? Was darf ich „zulassen“? Wo endet die kindliche Neugier und wo beginnt ein sexueller Übergriff unter Kindern? Das – und auch unser Blick durch die „Erwachsenenbrille“ auf kindliche Sexualität – erschwert einen unverkrampften Zugang zu diesen Themen.
LGBTI-Lebensrealitäten haben heute mehr Sichtbarkeit als noch vor zehn, zwanzig Jahren. Zeigt sich das auch in den Köpfen junger Menschen? Wie groß ist der Druck immer noch, in die heterosexuelle Norm zu passen?
Das kommt sehr stark auf das Umfeld, etwa den Schultyp an, in dem sich Jugendliche bewegen. Auf die Lehrpersonen und deren Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. LGBTIA-Jugendliche spüren natürlich, wo sie sie selbst sein dürfen und wo es besser ist, mit dem Coming-out bis nach der Schule zu warten. Sexuelle Bildung durch Expert*innen von außen muss Faktenwissen vermitteln und sollte immer davon ausgehen, dass LGBTIA-Jugendliche in den Klassen sind. Es braucht eine inklusive, sensible Sprache, um diese Themen völlig unaufgeregt besprechbar zu machen.
Kinder und Jugendliche sehen immer früher pornografische Bilder und Videos. Auch wenn die Bandbreite bei Pornos mittlerweile sehr groß ist und auch feministische Pornografie existiert, dominiert auf den Gratis-Plattformen Mainstream-Porno mit sehr rigiden Geschlechterrollen. Inwiefern prägt das die sexuellen Erwartungen und Wünsche der Jugendlichen?
Oft passiert der Erstkontakt zu den Pornos vor der Aufklärung durch Bezugspersonen. Deshalb ist auch eine frühe Aufklärung so wichtig, damit sie das Gesehene dann eher als Actionfilm denn als Doku einordnen können.
Kinder stoßen meist zufällig auf Pornos, Jugendliche suchen sie gezielt – nicht nur zur Masturbation, sondern auch, weil sie denken da lernen zu können, „wie Sex geht“. Und in der kostenlos zugänglichen Mainstream-Pornografie sieht man kaum konsensualen Sex zwischen gleichwertigen Partner*innen. Das macht Druck auf beiden Seiten – und behindert das (gemeinsame) Erforschen der eigenen Sexualität. Die Erwartungshaltung ist enorm hoch: „Das muss ich alles können?“
Dass es mit der sexuellen Selbstbestimmung von (heterosexuellen) Frauen nicht weit her sei, wird aktuell auch von feministischer Seite kritisiert. Statt sich mit der eigenen Lust und Befriedigung zu beschäftigen, würden die sexuellen Wünsche der Partner oft über die eigenen gestellt. Insbesondere für junge Frauen gebe es einen großen sexuellen Leistungsdruck, „gut im Bett zu sein“, einen guten Blowjob zu machen. Teilen Sie diese Diagnose?
„Gut im Bett sein“ contra „es gut im Bett haben“ – ja, ich denke schon, dass die Omnipräsenz von Pornografie ihren großen Teil dazu beiträgt, dass gerade junge Frauen ein Skript im Kopf haben, statt ihren ganz eigenen Bedürfnissen zu folgen. Dinge im eigenen Tempo ausprobieren, wenn man Lust hat, die eigenen Wünsche erkennen und dann auch noch dem Gegenüber sagen trauen, sie einfordern: Das sind oft lange Prozesse, die später erst (wieder-)erlernt werden müssen.
Andererseits zeigt Pornografie uns ja auch, was wir nicht möchten. Und auch Dinge, die wir vielleicht mal ausprobieren wollen. Gerade feministische Pornos, wie sie Erika Lust oder Arthouse Vienna produzieren, sind für viele Menschen eine große Bereicherung. Aber die sind halt nicht gratis.
Gabriele Rothuber ist Sexualpädagogin und Geschäftsführerin vom Verein Selbstbewusst in Salzburg. Sie ist Mum of 3 Sons, seit ewig verheiratet und im Vorstand der HOSI Salzburg. Sie hat eine starke Affinität, sogenannte Tabuthemen unaufgeregt besprechbar zu machen.