Interview: LGBT-Aktivistin ELENA KOSTYUCHENKO über kritischen Journalismus in Russland. Von JEANNA KRÖMER
Elena Kostyuchenko ist eine Größe des russischen Gegenwartsjournalismus. Sie schreibt für die „Nowaja Gaseta“, eine der wenigen unabhängig gebliebenen Zeitungen, und reist zu den Orten der brennendsten sozialen Probleme. Kostyuchenkos Texte zeigen die Welt von Drogenabhängigen, korrupten PolizistInnen, jugendlichen Nazis oder Straßenprostituierten. In einer ihrer Reportagen lernen wir einen Dorfbewohner kennen, dessen Wohnort von der einzigen Straße abgeschnitten ist, die ärztliche Hilfe im Notfall ermöglichen würde. Wir vergehen in der Hitze mit einer auf der Straße ausharrenden Witwe, die verzweifelt versucht, die Leiche ihres ermordeten Mannes zu bekommen, obwohl deren Existenz von den Behörden geleugnet wird. Mit aus gebeuteten GastarbeiterInnen hat Kostyuchenko die Moskauer Straßen gefegt. Sie zeigt uns, was am unteren Rand der Gesellschaft passiert. Doch nicht nur als Journalistin, auch als LGBT-Aktivistin engagiert sie sich, organisiert Protestaktionen gegen Homophobie, wie etwa ein KissIn vor dem Parlament. Und greift auch zu drastischen Maßnahmen. So drohte sie etwa damit, PolitikerInnen gegen ihren Willen zu outen, wenn diese für ein Gesetz gegen den Verbleib von Kindern in Regenbogenfamilien stimmen würden. „Sie wollen unsere Leben zerstören, also zerstören wir ihre“, rechtfertigt sie diesen Schritt.
Ständig erhält sie deshalb Drohungen von Kriminellen und Machthabenden, als offene Lesbe wird sie bespuckt und zusammengeschlagen. Doch das schüchtert sie nicht ein. Vor mir sitzt also zweifellos eine sehr tapfere Frau und ich bin irritiert, denn in meiner Vorstellung muss man für so viel Power groß und kräftig sein. Stattdessen ist Elena eine zierliche junge Frau mit großen Augen. Vielleicht liegt es auch an dieser Erscheinung, dass die Menschen in ihren Geschichten sie ganz nah an sich heranlassen. So entstehen ihre brillant detaillierten sozialkritischen Artikel.
an.schläge: Halten Sie sich für eine „extreme Journalistin“, wie viele Sie nennen? Was hat Sie zum Journalismus gebracht?
Elena Kostyuchenko: Ich habe eine Menge extremer Themen, aber ich bin keine Touristin, die nach Disneyland reist. Ich bin nicht auf der Suche nach dem Nervenkitzel, ich versuche nur die Themen aufzugreifen, die von den meisten JournalistInnen nicht besprochen werden. Sonst bleiben die betroffenen Menschen unsichtbar. Ich würde sagen, dass ich eine Journalistin der „unzentralen Themen” bin.
Warum Sozialjournalismus? Warum nicht etwas Einfacheres?
Ich könnte nicht behaupten, dass der Sozialjournalismus sehr kompliziert ist. Ich denke, dass es schwieriger ist, eine Kolumne über Mode zu schreiben. Du musst dich ernsthaft mit den Klamotten und Styles auskennen, dieses Wissen ständig aktualisieren. Wenn man zu dringlichen sozialen Themen schreibt, muss man nur hingehen, zuhören, was die Leute sagen, und aufschreiben. Der schwierigste Teil dieser Arbeit besteht darin, die Kommunikation aufzubauen.
Sie sind keine Moskauerin, Sie kommen aus Jaroslawl. Erzählen Sie etwas über diese Stadt, wie sind Sie aufgewachsen?
Jaroslawl ist eine Großstadt: 700.000 EinwohnerInnen, zwei Flüsse, drei Theater, viele Kirchen … Das war meine Kindheit. Ich kann nicht sagen, dass es einfach war – so wie für niemanden meines Jahrgangs. Als ich vier Jahre alt war, ist die Sowjetunion zerfallen. Plötzlich gab es Lebensmittelmangel und kein Geld, und so begann ich früh zu arbeiten, um zu verdienen. Mit neun ging ich zu einem Vokalensemble. Für jedes Konzert haben wir ein Gehalt bekommen. Die Höhe hing davon ab, wie viele Songs man hatte, ob man solo oder als Background-Stimme gesungen hat.
Wenn ich in der Woche zwei Konzerte gab, bekam ich 120 Rubel, dafür konnte man Grieß und Brot kaufen. Es war oft das einzige Geld in der Familie, weil meine Mutter Lohnrückstände in der Schule hatte.
In der Oberschule habe ich eine literarische Karriere geplant. Bei einem Poesie-Wettbewerb hat mich dann ein Erwachsener gefragt, wie ich damit meine Brötchen verdienen werde. Der Gedanke kam überraschend: „Stimmt! Wie will ich das machen?“ Ich wählte den Beruf der Journalistin also nicht aus einem Herzensbedürfnis heraus, sondern weil ich erkannt habe, dass sich mit den Honoraren ein Paar Stiefel kaufen lassen.
Wie beurteilen Sie Journalismus in Russland heute, vor allem den regionalen Journalismus? Was würden Sie ändern, wenn Sie könnten?
Allgemein ist Journalismus, wie wir ihn kennen, heute ein vom Aussterben bedrohter Beruf – ähnlich dem des Sattlers vielleicht. Regionalzeitungen in Russland können nur überleben, wenn sie entweder genug Anzeigen haben oder einen Knebelvertrag mit den lokalen Behörden schließen, der diesen eine „Informationsbegleitung“ verspricht. Wenn du die Gehälter weiter zahlen möchtest, verkneifst du dir die kritischen Themen.
Ich würde Medienanteile entstaatlichen und auf jeden Fall die teuflische Praxis der „Informationsbegleitung“ beenden. Ich würde auch eine Vereinigung von JournalistInnen aufbauen und die Behörden zwingen, die Morde an JournalistInnen zu untersuchen. Man müsste auch das Gesetz gegen die „Behinderung der journalistischen Tätigkeit“ reformieren, weil es überhaupt nicht funktioniert. Und wahrscheinlich würde ich beim Journalismus-Studium ein Fach einführen, das „Man sollte sich schämen, ein Arschkriecher zu sein“ hieße.
Es ist kein Geheimnis, dass der russisch-ukrainische Krieg heute nicht zuletzt ein Informationskrieg ist. Wie bleibt man als Journalistin objektiv?
Als Reporterin sammle ich und gebe Informationen weiter, ohne zu bewerten. Aber wenn in der Zeitung neben meiner möglichst objektiven Reportage ein Kolumnist erklärt, dass die eine Seite super ist, die anderen aber alle Arschlöcher sind, dann nehme auch ich an diesem Informationskrieg unwillentlich teil, weil ich die Zeitungsinhalte als Ganzes mitgestalte und LeserInnen anlocke, die dann eben auch diese Kolumne lesen.
Meine Meinung ist: Journalistische Kolumnen darf man während des Krieges nicht schreiben. Jede Meinung dazu, die mit wohlgewählten Worten geschrieben ist, legitimiert letztlich den Krieg. Man sollte stattdessen möglichst viele Fotos der Getöteten auf die Titelseiten drucken, damit alle eine Vorstellung davon bekommen, wie so ein Krieg konkret aussieht.
Eine Kriegsnachricht würde ich so aufbauen: „Im Ort Soundso haben Menschen von 8:30 bis 12:00 Uhr andere Menschen getötet. Menschen haben Artillerie genutzt. Tote: eine Liste von Personen.“ Wenn etwas über sie bekannt ist, dann würde ich auch persönliche Informationen zu den Opfern veröffentlichen. Ohne zu erwähnen, zu welcher Seite sie gehören.
Erzählen Sie von Ihrer ersten Gay-Pride!
Die Kurzversion: Ich bin gekommen, hab auf die Birne gekriegt und bin danach im Krankenhaus gelegen. Ausführlicher: Ich war damals mit meiner Freundin Anna in einer festen Beziehung, wir haben gemeinsam Kinder geplant und es war uns klar, dass wir dabei keinerlei Rechte hätten. Wenn die Partnerin sterben würde, würde das Kind in ein Waisenhaus geschickt.
Ich war sehr nervös, aber Anna nicht. Wir hatten den Plan, dass wir auf der Demo unsere Mäntel ausziehen würden, denn auf unserer beiden Rücken stand „Ich liebe sie“ mit jeweils einem gezeichneten Pfeil. Aus Angst, dass man irgendwie schon vorher sehen würde, dass wir Lesben sind, und uns womög lich festhalten würde, sodass wir unsere Aktion nicht mehr durchführen könnten, gingen wir aus der U-Bahn, ohne Händchen zu halten.
Als wir auf der Pride schließlich die Fahne entrollten, wurde ich plötzlich sehr ruhig. Doch dann hat ein bärtiger Sack mir die Fahne aus der Hand gerissen und mich von hinten aufs Ohr geschlagen. Ich konnte plötzlich nichts mehr hören und es wurde weiß vor meinen Augen.
Elena Kostyuchenko wurde 1987 geboren und hat den „Freedom“-Preis für ihren Beitrag zur demokratischen Entwicklung Kasachstans und den „Gerd Bucerius-Förderpreis Freie Presse Osteuropas“ erhalten. Dieses Jahr wurde in Moskau ihre Textsammlung „Bedingt unnötig“ veröffentlicht.
Jeanna Krömer schreibt aus Berlin über Gender, Demokratie und Osteuropa.