In Mississippi existiert nur noch eine Klinik, die Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Die „Pinkhouse Defenders“ schieben Wache, um Klientinnen vor Abtreibungsgegner*innen zu schützen. Von NORA NOLL
Es ist sieben Uhr morgens, der Himmel hängt tief über Jackson, Mississippi. Dort, wo die Fondren Plaza die North State Street kreuzt, sitzt ein alter Mann im Campingstuhl am Straßenrand. Stoisch blickt er vor sich hin, als würde er an einem See sitzen und Forellen fischen. Aber statt einer Angel hat er Plakate neben sich aufgestellt. „Let me pray for you“, steht auf dem einen, „Pray to end abortion“ auf dem anderen. Er wartet nicht auf Fische, er wartet auf Frauen. Frauen, die mit dem Auto die Fondren Plaza hochfahren, Richtung Pinkhouse. Dann steht der Mann auf und fragt durch das geschlossene Beifahrerfenster: „Darf ich für Sie beten?“
Dreißig Meter weiter steht Derenda Hancock und zieht an ihrer Zigarette. „Das ist nur der Good Doug“, sagt sie mit Blick auf den Mann im Campingstuhl. „Es gibt auch einen Bad Doug. Der Gute schreit wenigstens nicht rum.“ Sie lacht spöttisch und pustet Rauch in die feuchte, warme Luft.
Verteidigung. Derenda ist Mitbegründerin der Pinkhouse Defenders. Sie verteidigt die letzte Abtreibungsklinik Mississippis, dreimal die Woche, seit 6,5 Jahren. Zusammen mit einer Handvoll weiterer Unterstützer*innen eskortiert sie Patientinnen vom Parkplatz in die pink gestrichene Klinik der Jackson Women‘s Health Organization, um sie vor Menschen wie Doug zu schützen.
Für den Kampf auf der Straße haben die Defenders ihre eigenen Waffen. Mit lauter Musik übertönen sie das aufdringliche „Gehsteig-Consulting“. Wenn eine Patientin die Straße aufwärts parkt und zur Klinik begleitet wird, dient ein großer Regenschirm als Sichtschutz vor den Antis. Die Antis, das sind die militanten Abtreibungsgegner*innen.
„Der Gute Doug“, „der mit dem Make-America-Great-Again-Hut“, „der Stimme-Gottes-Matt“ – im Laufe der Zeit haben sich die Defenders Spitznamen für ihre Belagerer ausgedacht. Man kennt sich. Normalerweise träten Klinik-Escorts nicht mit den Protestierenden direkt in Kontakt, sagt Derenda. „Aber es wurden zu viele. Also haben wir beschlossen, den Straßenrand zurückzuerobern.“ Seitdem gehen die Pinkhouse Defenders den Antis bewusst auf die Nerven. Sie rufen: „Haut ab!“, und machen Videos, die sie auf ihrer Facebook-Seite teilen. „Die weniger Fanatischen lassen sich davon abschrecken“, sagt Derenda.
Herzschlag-Politik. Die Plakathalter*innen und Straßenprediger*innen sind nur der sichtbarste Part von Mississippis breiter Anti-Abtreibungsfront. Die mächtigen Abtreibungsgegner*innen sitzen im Regierungsgebäude. Der jüngste politische Angriff liegt nur ein halbes Jahr zurück. Mit der sogenannten Heartbeat-Bill wollte der republikanische Gouverneur Phil Bryant Schwangerschaftsabbrüche verbieten, sobald herzschlagähnliche Vibrationen im Embryo vernehmbar sind. Ein Quasi-Totalverbot, da eine Schwangerschaft zu diesem Zeitpunkt, in der sechsten Woche, oft noch gar nicht bekannt ist.
Das Gesetz wurde verhindert, vorerst. Der Bundesgerichtshof Mississippis blockierte die Heartbeat-Bill am 24. Mai, kurz vor offi ziellem Inkrafttreten. Die Hürde, an der auch andere Illegalisierungsversuche in Missouri oder Kentucky bisher scheiterten: Roe vs. Wade. So lautet ein 1973 gefälltes Urteil des Supreme Court zu Schwangerschaftsabbrüchen. Seit diesem Urteil haben alle US-Bürger*innen das Recht, ihre Schwangerschaft abzubrechen, bevor der Fötus eigenständig lebensfähig ist. Ein Recht, das nur der Supreme Court wieder aufheben kann. Seit der Ernennung Brett Kavanaughs zum Verfassungsrichter liegt die Mehrheit im Gericht wieder bei den konservativen Republikaner*innen – für die Abtreibungsgegner*innen ein Grund zur Hoff nung. Falls Roe vs. Wade tatsächlich umgestoßen wird, tritt in Mississippi und sechs weiteren Bundesstaaten ein sogenanntes Trigger-Law in Kraft: ein sofortiges Abtreibungsverbot.
Mit TRAP-Laws werden schon jetzt Abtreibungen gesetzlich erschwert. Ein Beispiel: Einrichtungen, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten, müssen in Mississippi den Standards von Operationssälen entsprechen. „Diese Regelung ist unnötig“, sagt Alicia Brown-Williams, politische Beraterin der Non-Profi t-Einrichtung Planned Parenthood. „Der Abbruch erfolgt im medizinischen Sinne nicht operativ. Und für viele Kliniken sind solche Standards zu teuer.“ Die Auflagen zeigen ihre Wirkung: Gab es 1992 noch acht Kliniken in Mississippi, gibt es 17 Jahre später nur noch eine. Eine Klinik für knapp 1,5 Millionen Menschen mit Uterus, auf einer Fläche so groß wie Österreich und die Schweiz zusammen.
Danielle Busby ist sich nicht sicher, wie eine Abtreibung in Mississippi funktioniert, als sie vor zwei Jahren ungeplant schwanger wird. Die damals 22-Jährige weiß nur, dass sie kein Kind will, nicht jetzt. Sie sucht online nach Abtreibungskliniken und stößt auf die Hope Clinic in ihrem Wohnort Hattiesburg. Die Einrichtung wirbt mit kostenloser Beratung zu Schwangerschaftsabbrüchen. Danielle geht zu einem Beratungstermin. Dort wird sie zu Missbrauchserfahrungen und psychischen Problemen befragt. Auch bei einem zweiten Termin wird Danielles Anliegen, ihre Schwangerschaft zu beenden, nicht ernst genommen. Stattdessen will die Beraterin wissen, was denn der dazugehörige Mann davon halte. „Ab dem Zeitpunkt war ich mir sicher, dass das keine seriöse Klinik sein kann“, erzählt Danielle. Die Hope Clinic äußerte sich nicht zu den Vorwürfen.
Propaganda-Klinik. Die Anti-Abtreibungsberatung hat System. Die National Abortion Federation, Dachorganisation der Abtreibungsanbieter, klärt über die Strategie der sogenannten Crisis Pregnancy Centers (CPC) auf: Es würden ohne ärztliche Lizenz Professionalität vorgespiegelt, falsche Informationen gegeben und bewusst Zeit verzögert. Das deckt sich mit Danielles Erfahrung, die wegen der Termine in der Hope Clinic eine Woche verlor. Die Website www.crisispregnancycentermap.com listet CPCs in den USA auf. In Mississippi gibt es demnach 29, in den gesamten USA über 2500. Zum Vergleich: Knapp 750 medizinische Einrichtungen in den USA führen legal Abtreibungen durch.
Als Danielle Zweifel kommen, fragt sie bei Planned Parenthood nach und wird zur Jackson Women‘s Health Organization weitergeleitet. Die Fahrt von Hattiesburg zum Pinkhouse dauert für sie nur zwei Stunden, die Nacht zwischen dem obligatorischen Beratungstermin und der Pilleneinnahme 24 Stunden später kann sie bei ihrer Mutter verbringen. Trotzdem ist der Eingriff eine finanzielle Belastung: achthundert Dollar kostet der medikamentöse Abbruch, sie muss sich Geld leihen. Dazu kommt die psychische Belastung: „Ich war mir meiner Entscheidung sicher, aber diese Leute vor der Klinik, die mich bequatschen wollten, die Musik, die aufgeladene Stimmung, das war eine komplette Überforderung.“
Die Abtreibungsgegner*innen vor dem Pinkhouse zielen genau auf diese Überforderung ab. Gegen elf Uhr parkt ein Van vor dem Pinkhouse, zwei Erwachsene und zehn Kinder steigen aus. Derenda stöhnt auf: „Die Boyds!“ Die jüngeren Familienmitglieder stellen sich mit Plakaten zu den anderen Antis. Zwei Schwestern im Teenageralter tragen pinke Westen und halten heranfahrende Autos an. Fast immer wird das Beifahrerfenster heruntergekurbelt. „Die tun so, als ob sie von der Klinik wären, und drehen unseren Patientinnen ihre Flyer an“, sagt Derenda. Immerhin hätten sie noch nicht die neuen mehrfarbigen Westen gekapert. „Die haben wir extra anfertigen lassen, nachdem sie unsere pinken, grünen und blauen Westen nachgemacht haben.“
Um ein Uhr nachmittags schließt die Klinik. Die Patientinnen werden zurück zum Auto eskortiert, die Antis verschwinden, die Musikanlage spielt den letzten Song, „Missionary Man“ von den Eurythmics: „I was born an original sinner. I was born from original sin.“ Derenda und drei ihrer Defender-Kolleg*innen trinken eisgekühltes Wasser und unterhalten sich. Über die eigentlichen Probleme, die Mississippi hat: hohe Kindersterblichkeit, hohe Müttersterblichkeit, hohe Kinderarmut. Letzter Platz im US-weiten Gesundheits-Ranking. Über religiösen Fanatismus und Politik. „Wir leben in einer Theokratie“, sagt Derendas Kollegin Kim. Morgen werden sie wieder vor der Klinik stehen und die Antis in Empfang nehmen.
Nora Noll studiert in Berlin und schreibt als freie Journalistin Reportagen u. a. für die „taz“ und den „Freitag“.