Mütter sind aufopfernd und lieben ihre Kinder bedingungslos, so die allgemeine Erwartung. Aber was, wenn die negativen Gefühle überwiegen? Verena Kettner hat Erfahrungsberichte von überforderten Müttern protokolliert.
„Die Liebe zum eigenen Kind ist bedingungslos“; „wenn du das Baby erstmal in den Armen hältst, bist du der glücklichste Mensch der Welt“; „natürlich wirst du es mögen, es ist ja dein eigenes Kind.“ Solche Sätze bekommen (werdende) Mütter in Variationen unausweichlich zu hören. Schließlich sind die gesellschaftlichen Erwartungshaltungen an sie nicht nur bezüglich der Fürsorgearbeit riesig, auch bedingungslose Liebe und Glücksgefühle scheinen zum Muttersein dazuzugehören. Wer anders empfindet, erlebt das deswegen oft als persönliche Schuld und schlimmes Versagen.
„Ich brauche eine Pause. Was hab‘ ich mir denn dabei gedacht, ein Kind zu kriegen, wenn ich es nicht mal schaffe, einen Vormittag mit ihm gemeinsam zu sein? My Body – My Choice – My Burden“, schreibt Lee 1 ins Tagebuch. Lees Kind ist zu diesem Zeitpunkt zweieinhalb Jahre alt und das Gefühl der Überforderung ist omnipräsent.
Auch für Carmen und Mathilda, deren Kinder aktuell eineinhalb und zweieinhalb Jahre alt sind, ist das Überforderungsgefühl allgegenwärtig, es nährt sich aus Erschöpfung, Wut und Angst.
Die Nacht ist zu viel. „Wenn ich meinen Sohn am Abend hingelegt habe, hatte ich immer Angst, dass er sofort wieder aufwacht, dass ich wieder nicht schlafen kann, wieder stillen muss, wickeln muss, für ihn da sein muss“, erzählt Carmen. „Man ist eh schon fertig, die Nacht ist dann einfach zu viel.“ Was sie auch spürt, ist Ärger. Nicht so sehr ihrem Kind gegenüber, sondern all den Stimmen von außen, die ihr einreden wollen, dass dieses Kind das Beste sei, was ihr je passiert ist, die Zeit jetzt die schönste Zeit ihres Lebens sein muss und sie jede Sekunde genießen sollte. „Mir ging es mies nach der Geburt“, meint Carmen. „Ich war müde, ich war fertig und es hat mich so geärgert, dass niemand darüber spricht, wie scheiße es einer eigentlich bei und nach der Geburt gehen kann.“ Auch mit dem Klischee der bedingungslosen Mutterliebe räumt sie auf: „Wie sollte das auf einmal die größte Liebe meines Lebens sein? Ich kenn‘ das Ding ja noch gar nicht“. Die Unmöglichkeit, über diese Gefühle zu sprechen, aus Schuldgefühlen sowie aus Angst davor, als „Rabenmutter“ verurteilt zu werden, machte ihre Isolation und Einsamkeit noch schlimmer.
Frühe Hilfe. Mathilda hat das Schweigen gebrochen. Seit einiger Zeit besucht sie regelmäßig eine Selbsthilfegruppe für Mütter mit postnataler Depression. Das Netzwerk „Frühe Hilfen Österreich“ hat ihr den Kontakt zur Gruppe vermittelt und unterstütze sie durch monatliche Hausbesuche und weitere Hilfsangebote. Seit Mathilda sich mit anderen Müttern ehrlich über ihre Gefühle austauschen kann, geht es ihr viel besser: „Ich hätte viel eher bei den Frühen Hilfen anrufen sollen. Ich kann nur jede Mutter ermutigen, sich diese Hilfe auch zu holen.“ Mathilda zählt sich zwar zu den wenigen Mütter, die nicht unter einem Geburtstrauma leiden, doch während der Schwangerschaft und den Monaten danach geht sie durch die Hölle. Ihre Gynäkologin rät ihr, während Schwangerschaft und Stillzeit die Medikation gegen ihre Angststörung auszusetzen, um dem Kind nicht zu schaden. Inzwischen hat sie erfahren, dass das in dieser Form gar nicht notwendig gewesen wäre. Doch Mathilda befolgte den Rat und kämpft danach mit Gefühlen von Einsamkeit, Angst, Wut und Abneigung gegenüber ihrem Kind, die nach der Geburt immer schlimmer werden. „Es gab einen Moment“, erzählt Mathilda, „wo ich mich aktiv davon abhalten musste, den Körper meines Kindes einfach zu zerquetschen. Natürlich ist es ein Unterschied, einen Gedanken zu haben oder ihm auch zu folgen. Aber in dem Moment konnte ich einfach nicht mehr.“ In der Zeit nach der Geburt gab es eine Phase, die Mathilda rückblickend als psychotisch beschreibt. Als ihr Sohn sie beim Wickeln an den Haaren zieht, wird eine traumatische Erfahrung sexueller Gewalt getriggert. Die Schuldgefühle wegen der aufkommenden Abneigungsgefühle ihrem Sohn gegenüber lösen Suizidgedanken aus. Da sie bereits Therapieerfahrung hat, erkennt sie die Anzeichen und kann sich schnell Hilfe holen: Sie ruft bei den Frühen Hilfen an und beginnt eine neue Therapie.
Das fehlende Dorf. Mathilda hatte vor allem mit zwei Problemfeldern zu kämpfen. Erstens gibt es viel zu wenig Unterstützung auf allen Ebenen für Mütter. Das ganze Dorf, das es sprichwörtlich braucht, um Kinder zu erziehen, fehlt. Zweitens fühlte Mathilda sich seit Beginn der Schwangerschaft überhaupt nicht mehr als Person wahrgenommen. Plötzlich dreht sich alles nur noch um das Wohlergehen des Kindes, ihre eigenen Bedürfnisse interessieren niemanden mehr. „Ich habe mich nicht mehr so wirklich wie ein Mensch gefühlt“, sagt Mathilda. Den Ärger, den sie immer wieder gegenüber ihrem Sohn verspürt, erkennt sie mittlerweile als Ärger auf die absurden Erwartungen der Gesellschaft: „Wenn ich wütend bin, weil er schreit und etwas braucht und ich habe schon wieder nicht gesaugt und das Bett nicht gemacht, dann ärgere ich mich ja eigentlich nicht über ihn, sondern darüber, dass ich das alles einfach nicht schaffen kann.“ Ihre Erfahrungen, so schwierig und schmerzhaft sie sind, beschreibt Mathilda teilweise auch als heilend. Da auch sie mit einer Mutter aufwuchs, die viel mit sich selbst und ihren Problemen beschäftigt war, diese allerdings nicht reflektierte und viel auf ihr Kind projizierte, weiß sie, wie es sich als Kind anfühlt, nicht die Liebe zu bekommen, die es braucht.
„Natürlich geht mir mein Kind manchmal auf die Nerven. Meine Tochter ist ein Mensch mit netten und mit eher nicht so netten Eigenschaften“, erzählt Fritzi. „Manchmal, wenn sie sich echt gemein oder scheiße verhält, bin ich halt schon auch ein bisschen abgetörnt von ihr. Und das ist okay so, ich mag ja auch nicht alles an meinen Partner*innen oder Freund*innen.“ Den Umstand zu akzeptieren, das eigene Kind auch mal nicht zu mögen, stellt für Fritzi eine Möglichkeit dar, ihm auch als eigenständigem Menschen zu begegnen.
„Ich will trotz Kind arbeiten“, schreibt Lee. „Ich wünsche mir, dass ich deshalb kein schlechtes Gewissen habe. Ich will keine neo-traditionelle Kleinfamilie reproduzieren. Zu lange in der Heteronormativität und ich kacke ab. Ich brauche queere Zusammenhänge. Ich verbringe gerne Zeit mit meinem Kind, halte es aber nicht lange aus. Ich frage mich, wie andere Menschen das schaffen: Einen ganzen Tag mit einem Kleinkind allein sein, ohne zu verzweifeln!?“ •