Julia Wissert ist die neue Intendantin am Schauspiel Dortmund. Damit ist sie nicht nur die jüngste, sondern auch die erste Schwarze Intendantin Deutschlands. Olja Alvir sprach mit ihr über die gläserne Klippe, Schubladisierung und die Sehnsucht nach Begegnungen.
an.schläge: Ihre Ernennung sorgte für reges Interesse. Die „erste Schwarze Frau“ oder „erste junge Frau“ an der Spitze – welche Erwartungen werden nun an Sie herangetragen?
Julia Wissert: Als klar wurde, dass ich diese Stelle bekomme, und als die ersten Medienanfragen kamen, empfand ich das als zweischneidiges Schwert. Es gibt viel Projektion: Ich würde kommen, fünfhundert Jahre Theatergeschichte in drei Monaten umkrempeln, und danach würde alles perfekt sein. Was natürlich unmöglich ist. Klar freue ich mich aber auch über die Aufmerksamkeit. Offensichtlich gibt es eine Sehnsucht nach Veränderung und neuen Perspektiven, die u. a. auch über mich, das Team und unsere Einstellung am Schauspiel Dortmund artikuliert wird.
Angelehnt an die gläserne Decke gibt es den Begriff der „glass cliff“, also der gläsernen Klippe. Frauen kommen oft erst dann an Spitzenpositionen, wenn es darunter ordentlich kriselt, was ihren Erfolg erschweren kann. Nun könnte man sagen, dass der Kulturbereich generell in einer von der Pandemie verstärkten Krise steckt.
Es kommt auf den Kontext an. Also ob Entscheidungen so ausgelegt sind, Frauen scheitern zu lassen, oder ein Aufblühen ermöglichen. In Dortmund gibt es bereits viele interessante Besetzungen im Kulturbereich. Mit Maxa Zoller wird eine neue inhaltliche Ausrichtung des Frauenfilmfestivals erwartet; Rebekka Seubert ist die jüngste Leiterin eines Kunstvereins. Meine Einstellung ist definitiv in diesem erfreulichen und zukunftsweisenden Kontext zu sehen.
Ein Freund meinte im April aber auch scherzhaft zu mir: „Schau, jetzt gibt es eine Schwarze Frau als Intendantin, und dann kommt direkt eine Pandemie und die Theater schließen. So groß ist der Widerstand!“ Zynisch! Aber es ist allgemein schon etwas Wahres dran: Die Spitzenjobs werden oft erst dann frei, wenn sie scheinbar irrelevant werden, und erst dann kommen auch Marginalisierte dran.
Die Krise trifft Theater besonders hart. Im ersten Lockdown im Frühjahr wurde versucht, durch Streams und andere Online-Angebote Alternativen anzubieten. Wird Corona das Theater nachhaltig verändern?
Es ist interessant, dass Sie Krise sagen und nicht Katastrophe. Es kommen nämlich bestimmt noch weitere Konsequenzen auf uns zu. Verlagerte Schwerpunkte in der Kulturpolitik, auch gekürzte Budgets – was fatal wäre. Die Fragen, um die es jetzt geht, müssen wir uns auch für die nächsten Spielzeiten stellen. Wie bleibt das Theater, oder in meinem Fall das Stadttheater, relevant? Wie lässt sich das Aufkommen digitaler Dramaturgien wie Gaming oder serielles Erzählen produktiv im Theater nützen? Welche Rolle spielt der Kanon überhaupt noch für ein modernes Publikum? Wie kann man Politik im Theater verständlich machen? Daran entlang muss meines Erachtens nach auch die Zukunft des Theaters gedacht werden.
Ich glaube nicht, dass Streaming eine nachhaltige Alternative bzw. Perspektive fürs Theater ist. Das können Netflix, Hulu, Sky und Co. einfach besser als wir. Es ist jedoch klar, dass es gerade eine große Sehnsucht gibt, einander zu begegnen. Die kleinen Formate, die wir während Corona gemacht haben, waren allesamt in kürzester Zeit ausverkauft. Hinterher waren die Leute glücklich, dass es eine Möglichkeit gab, zusammenzukommen. Die Begegnung ist unsere Stärke.
Was fehlt, wenn Theater nicht gemeinsam vor Ort erfahren werden kann?
Was Theater leistet, ist ein Energieaustausch. Es geht darum, einen flüchtigen Moment in der Raumzeit mit anderen Menschen zu teilen und gemeinsam zu erfahren. Ich sehne mich z. B. einfach auch nach dem Gefühl, in einem Zuschauer_innenraum zu sitzen und zu merken, dass das Licht ausgeht, der Vorhang aufgeht. Gänsehaut! Oder wenn man während eines Stückes merkt, dass die Stimmung kippt oder sich Konzentration im Publikum ausbreitet. Wir haben ja ständig Proben im leeren Theatersaal, und das ist etwas ganz anderes als eine Aufführungsstimmung. Was fehlt, ist unser Publikum, die Co-Autor_innen dieser gemeinsamen Erfahrung.
Neulich sprach ich mit Kolleg_innen über folgendes Dilemma: Als marginalisierte Künstler_innen fühlen wir uns oft dazu berufen, Themen wie Diskriminierung aufzugreifen. Denn wenn wir es nicht machen, wer dann? Bei uns liegt immerhin auch die Expertise und das Feingefühl. Jedoch kann das auch zu einer Art Selbst-Schubladisierung und einer Fragmentierung der Kunstszene führen.
Es gibt zwei Fragen, die wir uns vor diesem Hintergrund stellen müssen. Die erste ist: Welche Kunst wollen wir eigentlich machen? Uns ist extrem wichtig, über unsere Identitäten und Marginalisierung zu sprechen – und manchmal ist es ja auch unausweichlich. Aber diese Aspekte haben wir implizit oder explizit sowieso immer dabei. Wir wollen nur manchmal nicht, dass sie den Diskurs sofort dominieren und die Sicht vernebeln. Ich denke, die Lösung liegt darin, wegzukommen von körperlichen, identitären Zuschreibungen und sich den strukturellen Themenkomplexen anzunehmen. Außerdem muss auch der Blick mitreflektiert werden. Wie gehen wir mit diesen Themen so um, dass sie ästhetisiert werden, und wie wirkt diese Ästhetisierung zurück auf diese Themen?
Es darf nicht sein, dass Körper, die auf deutschen Bühnen nicht normalisiert sind, auf der Bühne immer nur als Stellvertreter_innen ihrer Diskriminierungsform oder einer Gruppe gesehen werden und nicht als Künstler_innen. Und die zweite wichtige Frage, die wir uns hier stellen müssen, ist: Wie wollen wir arbeiten?
Apropos Arbeitsbedingungen: Gemeinsam mit der Rechtsanwältin Sonja Laaser haben Sie die sogenannte „Anti-Rassismus-Klausel“ ausgearbeitet, die Theaterangestellte rechtlich vor rassistischen Übergriffen schützen soll. Welche weiteren Maßnahmen sind für Sie denkbar?
Ich würde eine Art Quote für Leitungspositionen einführen. Das sollte nicht lediglich eine Frauenquote sein, sondern intersektional gedacht werden und verschiedene Diskriminierungsformen umfassen. Und mein nächster Wunsch wäre ein unschlagbares Nachwuchsförderungsprogramm, das so gut dotiert ist und so qualitativ hochwertig, dass zwei Dinge geschehen: erstens, dass sich mehr Personen eine Laufbahn am Theater oder in der Kunst leisten können. Denn Klasse ist hier noch immer ein Riesenthema. Und zweitens, dass die Theater an diesem Nachwuchs nicht mehr vorbeikommen, weil er so gut ist. Das ist, was ich „liebevollen Druck aufbauen“ nennen würde. Und zuletzt schlage ich vor, darüber nachzudenken, wie staatliche Unterstützung vergeben wird. Es gibt international schon Modelle, an denen man sich anlehnen könnte. Es reicht nicht, dass neue Gesichter, neue Köpfe und Körper in die Strukturen eingeführt werden. Die Strukturen müssen auch mitlernen und mithalten können – in der Doppelbedeutung dieses Wortes.
Julia Wissert ist Regisseurin. Mit dem Theater und der Gesellschaft, in dem es verwurzelt ist, setzt sie sich auf machtkritischer und intersektionaler Ebene auseinander. Seit der Spielzeit 2020/21 ist sie Intendantin des Schauspiels Dortmund.